Schneeflockenbaum (epub)
Fingernägel sah es so aus, als streckte sie eine riesige Klaue nach mir aus. Ich erschauderte.
»Ist dir kalt?«, fragte Katja.
»Nein, wie kommst du darauf?«
»Du zittertest auf einmal so.«
»Das geht vorbei.«
Später am Abend machte ich noch einen Spaziergang durch die märchenhaften Gassen. Noch immer war das Pflaster mit einer hauchdünnen Schneeschicht bedeckt. Selbst in der Haarlemmerstraat war sie, obwohl so viele Füße darübergegangen waren, noch nicht geschmolzen. Wie von selbst gingen meine Beine in Richtung Vrouwenkerkkoorstraat. Immer wieder schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Warum warst du vorhin ohne Handschuhe unterwegs. Mit Handschuhen wärst du unschädlich gewesen. Jetzt hast du mich wieder in deinen Fängen, und ich sollte lieber bei dir vorbeigehen, um dich aus meinem System zu löschen.
Also ging ich bei ihr vorbei. Die Vorhänge waren offen. Dem Fenster den Rücken zukehrend, saß sie genau im Schein der Lampe und las in dem Buch, dessen Seiten so dünn sind wie Zigarettenpapier. Ich wartete, bis sie mit ihren blutroten Nägeln eine Seite umblätterte. Dann ging ich weiter, erst sie verfluchend, dann mich selbst verfluchend und schließlich meine Eltern verfluchend, die mich, während in den Gaskammern im Akkord Menschen ermordet wurden, in eine grausame, missgestaltete Welt gestoßen hatten, in der jeder vernünftige, rechtschaffene Mensch niemals auf den Gedanken käme, Kinder zu zeugen.
Kleidersäcke
A uf dem Nieuwe Rijn war die dünne Schneeschicht bereits wieder geschmolzen, als am Samstagnachmittag Katjas Bruder und ihre Schwägerin kurz nach drei ihren Wagen direkt am Wasser parkten. Eingedenk der Bauernregel »Da ist kein Samstag so dick, dass die Sonne scheint einen Blick« huschte kurz ein blasses Streiflicht über die Straße. Ich saß am Fenster und war so in die Lektüre des berühmten Bach-Buchs von Schweitzer vertieft, dass ich erst jetzt, irritiert vom Lichtreflex, aus dem Fenster schaute und bemerkte, dass vor unserem Haus ein Auto mit englischem Kennzeichen stand und dass die Insassen längst ausgestiegen waren.
»Da sind sie!«, rief ich.
Katja eilte aus der Küche herbei. Zusammen betrachteten wir den Minivan, aus dem Katjas Bruder und seine Frau Kleidersäcke luden, die sie neben dem Wagen abstellten.
»Was haben die denn alles eingepackt?«
»Keine Ahnung«, sagte Katja.
Mein Schwager schleppte einen der prallen Säcke zur Ladentür.
»Hilf ihm mal schnell«, sagte Katja, »dann gehe ich in die Küche und setze Teewasser auf.«
Ich ging die Treppe hinunter, öffnete die Ladentür, begrüßte die beiden Gäste und fragte: »Müssen die drei Kleidersäcke ins Haus gebracht werden?«
»Ja«, sagte mein Schwager stolz, »darin ist ein schönes Geschenk für euch.«
Also trug ich die riesigen Kleidersäcke durch den Laden und die Treppe hinauf in den ersten Stock, wobei ich mich fragte, was wohl darin sein könnte. Das verriet meine Schwägerin uns erst, als wir in den bequemen Sesseln im Wohnzimmer saßen und frisch gebrühten Tee tranken.
Übersetzt lautete ihre Ansprache ungefähr so: »Wir, Jacob und ich, haben zwei Kinder, die gerade bei den Großeltern sind. Wir sind sehr glücklich mit Samantha und Edytha, aber wir finden, dass wir unsere Pflicht getan haben, und daher wollen wir es definitiv bei den beiden belassen. Mehr als zwei Kinder wollen wir auf gar keinen Fall, und mehr können wir uns finanziell und was den Platz in der Wohnung angeht, auch gar nicht leisten. Darum haben wir alle Babysachen in diese drei Kleidersäcke gestopft. Die überreichen wir euch heute feierlich, damit ihr demnächst alles habt, um euren Erstling einzukleiden. Sollte es ein Junge sein, ist das kein Problem, die Sachen sind alle unisex.«
Katja und ich waren angesichts dieses großzügigen Geschenks derart verblüfft, dass wir zunächst nicht adäquat darauf reagieren konnten. Erst als die Stille für mein Empfinden etwas unheimlich wurde, brachte ich einige Worte heraus.
»Dass ihr das alles einfach so durch den Zoll bekommen habt.«
»Oh, no problem at all, we told them about the destination of the clothes.«
Wieder herrschte Schweigen. Katja sah aus, als habe sie soeben erfahren, dass sie mit der Garotte getötet werden würde. Auch mir war sehr seltsam zumute, doch meine Schwägerin meinte fröhlich: »Ich will euch einen guten Rat geben. Viele Paare sind heute geneigt, das Kinderkriegen vorläufig zu verschieben. Erst die Karriere. Oder sie wollen
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