Schneegeflüster
liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, doch sie konnte nicht heimgehen. Sie wollte Carl noch einmal sehen, sie wollte den Adventskalender zu Ende bringen, sie wollte … Sie wollte, dass der letzte Tag ihres Lebens ein Tag wie immer war. Dann entdeckte sie einen Brief mit Carls aufgedruckter Hoteladresse. Es war eine Einladung, den Heiligabend mit ihm in der Bar zu verbringen, falls du frei sein solltest .
In den nächsten Stunden sorgte Sarah dafür, dass Zimmer geräumt, geputzt und neu belegt wurden. Dann endlich konnte sie hinaus in die Lobby, um sich dem Adventskalender zu widmen. An Heiligabend würde es bestimmt nicht schwer sein, jemanden zu finden, der eine gute Tat vollbracht hatte.
In der Lobby war Ruhe eingekehrt. Sarah wollte an der Rezeption die Buchstaben holen, doch die Schachtel war verschwunden. In diesem Moment kam Carl die Treppe
herunter. Sie winkte ihm zu, und im nächsten Moment nahm er sie in die Arme.
»Du bist da«, flüsterte er in ihre Haare. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr vor den Feiertagen.«
Sarah musste blinzeln, so überrascht war sie, doch dann legte sie die Arme um Carls Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. Ihre Lippen berührten sich nur kurz. Seine waren kühl, was sie erwartet hatte, doch wie weich sie waren, damit hatte sie nicht gerechnet.
»Victor hat Neuigkeiten für dich.« Carl deutete auf den Hotelchef, der vor dem Adventskalender stand. Pauline daneben hielt die Metallschachtel in den Händen.
Dann hatten sie schon eine gute Tat für den 24. gefunden. Sarah war so erleichtert, dass sie Carl noch einmal küsste. »Ich bin frei heute Abend«, sagte sie leise, als sie sich von ihm löste.
Seine Augen strahlten so intensiv, dass ihr flau im Magen wurde. Er nickte. »Gut.«
Sarah ging zum Adventskalender, wo der Chef höchstpersönlich die Buchstaben auf die letzte Leiste steckte, die mit einem dicken, Posaune blasenden Engel verziert war. Die heutige gute Tat konnte Sarah nicht erkennen, weil Steiner davorstand, aber den Namen sah sie. S-A-R-A-H M-O-R-G-E-N-T-A-L stand da.
»Was?« Sie unterdrückte ein Husten.
»Überraschung!« Paulines rot-grüne Ohrringe wippten. Sie hatte sichtlich ihren Spaß.
Steiner drehte sich um. »Sarah! Ich habe da einen letzten Geschenkgutschein für Sie.« Mit einer kleinen Verbeugung reichte er ihr den Umschlag, ganz Gentleman der alten Schule. Es war die goldgeprägte Einladung zu einem Winterball,
der heute Abend im Festsaal des Hotels stattfinden sollte.
»Ein Winterball? Aber der Festsaal muss doch für Silvester …«
»Es ist alles vorbereitet«, sagte Pauline. »Nur für Personal und Gäste des Hotels. Sonst hätten wir die Vorbereitung ohne dich gar nicht geschafft.«
Sarah starrte sie an. Die Kollegen mussten den Ball an den Tagen organisiert haben, an denen sie gefehlt hatte. »A-aber …«, stotterte sie. Ihr Plan sollte heute seinen Abschluss finden. Doch würde sich an dem Plan wirklich etwas ändern, ob sie nun noch ein paar Stunden auf einem Winterball tanzte oder allein mit Carl einen letzten Cocktail trank? »Aber ich muss noch mal heim. Ich bin nicht für einen Ball angezog …«
In diesem Moment gingen die Hoteltüren auf, und Annie kam hereingestürmt. Ihre Nasenspitze war rot vor Kälte. In der Hand trug sie Sarahs Reisetasche.
»Wir haben an alles gedacht.« Pauline grinste verschwörerisch und deutete mit dem Kinn auf Steiner. Der alte Mann war ganz in die Betrachtung des mit guten Taten gefüllten Adventskalenders versunken.
»Das trägerlose Dunkelgrüne. Weil Weihnachten ist, dachte ich.« Annie war immer noch völlig außer Atem, als sie Sarah die Reisetasche in die Hand drückte. »Make-up ist auch drin.«
Sarah war zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Da tauchte wie aus dem Nichts Carl hinter ihr auf. Sie spürte ihn, bevor sie seine Stimme hörte.
»Ich hoffe, ich bekomme den ersten Tanz.«
Sie lehnte sich gegen ihn, und seine Hände fanden ihren
Platz auf ihren Hüften. Für treue Dienste , posaunte der dicke Engel hinter ihrem Namen auf dem Adventskalender. Sie war sicher, dass die Auszeichnung Carls Idee gewesen war. Das war also ihre gute Tat. Dass sie weitergemacht hatte, nachdem Max verschwunden war, nach der Diagnose, von der niemand im Hotel etwas wusste, nach der gescheiterten Chemo. Und dass sie durchgehalten hatte. Bis heute.
Der Winterball war ein rauschendes Fest. Wohin Sarah auch blickte, sah sie Tanzende mit silbernem
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