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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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Reindl.«
    »Freut mich«, sagte Charlotte. Sie schaute auf das Verkaufsschild am Stand und las »Heinrich Reindl Zuckerbäckermeister«.
»Ich nehme an, das ist Ihr Vater«, sagte sie und zeigte auf das Schild.
    Richard Reindl nickte. »Ja, seit einem halben Jahr leiten wir die Konditorei gemeinsam. Und mit wem habe ich die Ehre?«
    »Charlotte Schwarz.« Sie streckte dem jungen Zuckerbäcker die Hand entgegen und war überrascht, als dieser sie kräftig schüttelte, statt wie üblich einen Handkuss anzudeuten. Charlotte wandte sich zum Gehen, hielt aber inne, als plötzlich rund um den Platz Gaslaternen entzündet wurden und wie von Zauberhand Kerzen und Laternen in den Verkaufsständen erschienen. Vor dem großen Christbaum in der Mitte des Marktes nahm ein Kinderchor Aufstellung. Charlotte stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die Kinder hatten runde Gesichter mit rosigen Wangen, sie trugen warme Wollmäntel und dicke Mützen. Unwillkürlich dachte Charlotte an die spitzen, blassen Gesichter, in die sie jeden Vormittag blickte. Eine hochgewachsene, schlanke Frau trat vor die Kinder und bedeutete ihnen mit einem leichten Kopfnicken, ruhig zu sein. Dann hob sie die Hände wie der Dirigent eines großen Orchesters und gab den Einsatz. Zarte, unsichere Kinderstimmen ertönten, erst zaghaft, doch dann immer lauter. Endlich tönte ein kräftiges »Oh du fröhliche, oh du selige …« über den ganzen Platz.
    Die Menschen lauschten entzückt. Als das Lied zu Ende war, gingen zwei der Kinder mit leeren Gurkengläsern herum und sammelten Münzen. Sie blieben auch vor Charlotte stehen. Die schüttelte verlegen den Kopf, sie hatte ihre Geldbörse zu Hause gelassen.
    »Wofür sammelt ihr denn?«, fragte sie einen kleinen Jungen
mit abstehenden Ohren. »Für die Sanierung der Reitställe an unserem Internat«, sagte er stolz. »Der Direktor will die Gebäude abreißen lassen, aber dann könnten wir am Nachmittag nicht mehr reiten, und das wäre schrecklich.«
    Charlotte riss fassungslos die Augen auf. Diese Kinder sammelten Geld, damit sie am Nachmittag ausreiten konnten, und die Menschen warfen bereitwillig Münzen in die Gläser. Ihre Kinder würden Geld sammeln, damit sie und ihre Familien zu Weihnachten einmal nicht hungern mussten. Aber die Kinder der Ziegelfabriken durften Am Hof nicht singen.
    Richard Reindl suchte in seiner Jackentasche nach einer Münze, doch als er Charlottes entsetzten Blick wahrnahm, ließ er davon ab.
    Der Junge zuckte mit den Schultern und ging weiter.
    »Sie sind ganz blass. Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der Zuckerbäcker besorgt. »Ich hoffe, das liegt nicht an unserem Marzipan. Soll ich Sie nach Hause bringen?«
    Charlotte schüttelte den Kopf: »Nein, danke. Es geht schon wieder. Es ist bloß wegen des Kinderchors.«
    »Ihnen wird übel, wenn Kinder singen?«
    »Nur wenn reiche Kinder Geld für ihre Stallungen sammeln dürfen, während man es anderen, die das Geld dringend zum Leben bräuchten, verweigert.« Verärgert dachte Charlotte daran, dass sie auch heuer wieder ihre fünf Antragsformulare mit dem fetten Stempel »Antrag abgelehnt« zurückbekommen hatte. Als sie bei dem zuständigen Beamten des Marktamtes nachgefragt hatte, hatte dieser abfällig gegrinst und gemeint: »Glauben Sie wirklich, dass der Kaiser den Menschen Am Hof verlauste Arbeiterkinder zumutet?«

    Erneut setzte der Kinderchor zu einem Lied an. »Oh Tannenbaum …« Charlotte verabschiedete sich rasch von dem Zuckerbäcker und drängte sich forsch durch die Menge. Sie musste diesen Platz verlassen, bevor die Kinder noch einmal mit ihren Gurkengläsern herumspazierten. Je weiter sie sich entfernte, umso leiser wurden die Kinderstimmen. Charlotte entspannte sich. Als sie in die Naglergasse kam, waren auch die Gerüche des Weihnachtsmarktes verschwunden. Es hatte zu nieseln aufgehört, doch die Straßen waren nass, und das matte Licht der Gaslaternen spiegelte sich auf den glänzenden Pflastersteinen wider. Schon hatte sie den Kohlmarkt erreicht und stand wieder vor dem Haus der Tante, wo sie selbst zwar wohnte, aber nicht zu Hause war.
     
    Wie jeden Montag war es draußen noch dunkel, als Charlotte aufstand. Nach einem hastigen Frühstück marschierte sie zu Fuß bis zur alten Stadtmauer, die der Kaiser nächstes Jahr für eine riesige Prachtstraße schleifen lassen wollte. Außer ein paar Arbeitern war noch niemand unterwegs. An der Stubenbastei, einst Verteidigungswall gegen eine

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