Schneegeflüster
der Geburt ihrer Tochter am Kindbettfieber gestorben. Ärgerlich warf Charlotte das Korsett aufs Bett. Ein Blick auf die kleine Taschenuhr, eines der wenigen Erbstücke ihres Vaters, verriet ihr, dass nur noch wenig Zeit blieb. In weniger als einer Stunde würde Kasper von Schelling zum Nachmittagskaffee erscheinen. Wieder einer der potenziellen Heiratskandidaten, die Tante Emilia ständig einlud. Es war ihr ein Dorn im Auge, dass Charlotte immer noch als Lehrerin am Wienerberg arbeitete und dort die Kinder einfacher Ziegelarbeiter unterrichtete, anstatt in einer komfortablen Ehe zu leben.
Kasper von Schelling war der Erbe einer Metallknopffabrik. Der einzige Lieferant der gesamten Armee und ein schwerreicher Mann, und wenn stimmte, was man sich von ihm erzählte, war er ein unangenehmer Emporkömmling, der viel zu schnell zu Geld gekommen war. Charlotte, die eigentlich nicht besonders gläubig war, sprach ein kurzes Gebet und bat um Weisheit und Geduld. Sie wollte den Besuch ihrer Tante nicht brüskieren.
Doch schon wenige Stunden später wusste Charlotte, dass Gott sie nicht erhört hatte. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Kasper von Schelling hatte sich
als großspuriger Industrieller präsentiert, der nur mit seinen Erfolgen prahlte und überhaupt nicht an dem interessiert war, was Charlotte zu sagen hatte.
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich finde, Kasper von Schelling ist ein netter und höflicher Mann«, widersprach ihr Tante Emilia. »Ich finde, dass du dich ihm gegenüber unmöglich benommen hast.« Sie nahm einen letzten Schluck heißer Schokolade aus ihrem feinen Augartenporzellan, tupfte sich die schmalen Lippen mit einer fein bestickten Stoffserviette ab und sah Charlotte über den Rand ihrer kleinen eleganten Brille hinweg streng an. Sophie, Emilias Tochter, die neben ihr saß, zuckte zusammen, obwohl der Tadel nicht ihr galt.
»Er ist ein arroganter, menschenverachtender Industrieller«, rief Charlotte aufgebracht. Sie sprang von einem der neuen Holzsessel aus der Wiener Werkstatt auf und lief zum Fenster. »Hast du denn nicht gehört, was er gesagt hat? In seiner Fabrik arbeiten Männer und Frauen vierzehn Stunden pro Tag für einen Hungerlohn, der nicht einmal reicht, um die Miete zu bezahlen.«
»Er ist ein gut verdienender, erfolgreicher Unternehmer«, erwiderte die Tante.
»Er ist ein aufgeblasener Wicht.«
»Also wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, du wärst einer dieser ungehobelten Arbeiteranführer, die dafür plädieren, dass Arbeiter genauso viel verdienen wie die Besitzer der Fabriken.« Tante Emilia schüttelte angewidert den Kopf. »Mein Bruder war verantwortungslos und egoistisch. Er hätte niemals zulassen dürfen, dass seine eigene Tochter arme Kinder unterrichtet.«
Charlotte setzte zu einer heftigen Erwiderung an, aber
ihre Cousine Sophie hielt sie mit einem warnenden Blick davon ab. Sophie war der sanftmütigste Mensch, den Charlotte kannte, sie konnte Streitigkeiten nicht ausstehen.
»Schelling hat zwei Schachteln Demelkonfekt aufgegessen und mit keinem Wort erwähnt, dass es sich dabei um das teuerste und beste Konfekt der Stadt handelt«, gab Sophie nun zu bedenken.
Tante Emilia zog beide Augenbrauen hoch. Das Argument ihrer Tochter beeindruckte sie weitaus mehr als die Tiraden ihrer starrköpfigen Nichte. Von Haus aus sparsam, überlegte sie, ob der junge Mann vielleicht doch ein aufgeblasener Emporkömmling war.
»Wie auch immer!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich wieder ihrer Nichte zu. »Charlotte, du weißt, dass ich nur das Beste für dich will, und ich muss dir sagen, ich mache mir wirklich Sorgen. Sophie heiratet im Frühling, und du solltest dich auch endlich für einen Ehemann entscheiden.«
»Genau das ist der Punkt, Tante Emilia. Ich will nicht heiraten«, sagte Charlotte trotzig.
»Aber du kannst von deinem Gehalt nicht leben, und ich weiß nicht, wie lange ich dich noch unterstützen kann.« Die Augen der Tante wurden schmal und hart. Endlich hatte sie laut ausgesprochen, was sie seit Monaten beschäftigte.
»Willst du, dass ich ausziehe?«, fragte Charlotte tonlos.
»Ich will, dass du heiratest. Deshalb werde ich Kasper von Schelling noch einmal einladen, und ich erwarte von dir, dass du dich das nächste Mal zusammenreißt und ihm keine Vorhaltungen machst, wie er mit seinen Arbeitern umgeht.«
Ein dicker Kloß bildete sich in Charlottes Hals. Erwartete die Tante tatsächlich,
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