Schneegeflüster
übermächtige türkische Armee, wartete bereits der Milchmann mit seinem Wagen auf Charlotte. Er nahm sie jeden Tag mit in den Süden zur Arbeitersiedlung auf dem Wienerberg. Seit der Zeit von Kaiserin Maria Theresia hatten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen für die Menschen dort in den Ziegelwerken kaum geändert.
Ein eisiger Wind pfiff Charlotte um die Ohren, und sie wickelte ihren Schal enger. Die Augen hielt sie geschlossen. Wann sie ihr Ziel erreicht hatte, merkte sie an der rußgeschwängerten Luft, die nahe bei den Ziegelwerken so scharf war, dass sie einen Hustenreiz hervorrief. Die ersten Baracken
tauchten auf, winzige Bauten aus rotem Ziegel, deren Fenster so windschief in den Rahmen saßen, dass man von Weitem sehen konnte, wie sehr es drinnen zog. Zwischen den Häusern hing Wäsche zum Trocknen. Eben erst gewaschen, war sie schon wieder grau, vom Ruß und der Asche, die in der Luft hingen.
Vor einem baufälligen Holzgebäude hielt der Milchmann an. Es war die Schule, in der Charlotte unterrichtete.
»Wie immer um zwei?«, fragte er. Charlotte nickte und kletterte vom Kutschbock.
Die grob gezimmerte Holztür der Schule war zu ihrer Überraschung bereits aufgesperrt. Auch das Klassenzimmer war warm, in dem winzigen schwarzen Ofen brannte ein Feuer. Neugierig sah sich Charlotte um und erkannte im Halbdunkel einer Kerze ihre Schülerin Agnes. Sie saß mit gebeugten Schultern vor dem Ofen und hatte den Kopf in beide Hände gestützt.
Verwundert trat Charlotte neben sie und sagte: »Du bist aber heute früh dran!«
»Es ist das letzte Mal, dass ich komme. Vater ist tot, und ich muss in der Fabrik arbeiten.«
Charlotte ließ vor Schreck ihre alte Ledertasche fallen und sank neben dem Mädchen auf die Bank.
»Was ist denn geschehen?«
Die magere Vierzehnjährige, deren blondes Haar zu zwei sauberen Zöpfen geflochten war, starrte auf den Boden. »Seine Haare haben am Brennofen Feuer gefangen.«
Entsetzt legte Charlotte beide Hände an die Wangen.
»Die anderen haben noch versucht, das Feuer mit Decken und Wasser zu löschen, aber …« Die Stimme des Mädchens versagte. Die schmalen Schultern zuckten.
Charlotte legte beide Arme um Agnes und zog das jetzt laut schluchzende Mädchen an sich.
»Ich will - ich will nicht - in die Fabrik. Sie hat - Vater - getötet und - macht - Mutter krank«, stieß Agnes hervor, und ihre Tränen durchweichten Charlottes Mantel. Es gab nichts Tröstliches, was sie dem Mädchen hätte sagen können. Jedes Wort der Hoffnung wäre eine Lüge gewesen. Charlotte hielt Agnes fest und schloss beide Augen, um nicht ebenfalls zu weinen.
Irgendwann hatte Agnes keine Tränen mehr. Charlotte fragte: »Willst du eine Tasse Kaffee?« Charlotte wusste, dass das Mädchen das heiße, klebrige Getränk, ein Aufguss von Gerste, Malz und Zuckerrüben, für immer mit diesem traurigen Morgen verbinden würde. Sie selbst konnte seit dem Tod ihres Vaters keinen Tee mehr trinken.
Bevor die anderen Kinder kamen, ging Agnes. Sie wollte den Schulkameraden heute nicht begegnen.
Wenig später blickte Charlotte in betroffene schmale Gesichter, in denen sich Angst und Unsicherheit abzeichneten. Die Kinder wussten alle von dem grausamen Unfall. Charlotte versuchte erst gar nicht, ihnen Mut zuzusprechen, sie hätte wohl ohnehin nicht die richtigen Worte gefunden. Deshalb ließ sie die Kinder reden und hörte ihnen zu.
»Agnes muss jetzt auch in der Fabrik arbeiten«, sagte Franz, ein dürrer Junge mit abstehenden Ohren.
»Mama hat gesagt, dass Agnes’ Mutter allein nicht genug Geld verdienen kann, um alle fünf Kinder zu ernähren.«
Die kleine Theresa mit den roten Locken schüttelte den Kopf. »Was für ein trauriges Weihnachtsfest!«
»Können wir zu Weihnachten nicht irgendetwas für Agnes und ihre Geschwister tun?«, überlegte Franz.
»Wir könnten ihnen einen großen Kuchen backen.«
»Oder einen Eintopf vorbeibringen, damit sie nicht hungern müssen.«
Charlotte war gerührt von der Hilfsbereitschaft ihrer Schüler. Bevor sie mit dem Unterricht begann, sagte sie: »Bis zum Ende der Woche denken wir alle noch einmal angestrengt nach, wie wir Agnes helfen können. Am Freitag gleich nach der Rechenstunde werden wir beraten, was zu tun ist.« Die Kinder waren einverstanden. In ihren Augen sah Charlotte bereits wieder etwas Zuversicht.
Als der Milchmann Charlotte um zwei Uhr wieder zurück in die Stadt fuhr, bat sie ihn, schon am Donaukanal haltzumachen.
»Ich muss mir die
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