Schneegeflüster
dass sie diesen Widerling heiratete? Wortlos verließ sie den Salon. Sophie rief ihr nach, aber Charlotte wollte keine beschwichtigenden Worte hören. Rasch lief sie die Treppe hinunter, zog Mantel und Schal an und verließ das Haus. Sie brauchte dringend frische Luft.
Ohne Ziel lief Charlotte durch die Straßen. Ein leichter Nieselregen setzte ein, und sie zog den Mantel enger um ihren Körper. Zwischen den Pflastersteinen bildeten sich kleine Rinnsale, eine Pferdekutsche ratterte knapp an ihr vorbei und spritzte sie nass. Charlotte sprang fluchend zur Seite. Es war ihr völlig egal, ob jemand ihre nicht besonders damenhaften Worte hörte. Sie befand sich immer noch im elegantesten Teil der Stadt, wo sich nur reiche Industrielle und wohlhabende Adelige Wohnungen leisten konnten, und betrat jetzt den Platz Am Hof. Dort standen seit einer Woche die Buden des alljährlichen Weihnachtsmarktes. Trotz des schlechten Wetters hatten sich viele Wiener aufgemacht, um die bunte Ware auf den weihnachtlich geschmückten Ständen zu bestaunen. Eine Duftmischung aus gebratenen Maroni, kandierten Mandeln und süßem Orangenpunsch schlug Charlotte entgegen. Sie sog das Aroma in sich auf. Für einen Augenblick hatte sie die Illusion, ihr Vater ginge neben ihr, fasse sie am Ellbogen, fragte sie, ob er ihr ein Lebkuchenherz kaufen solle. Obwohl er immer viel gearbeitet hatte, hatte er sich jedes Jahr die Zeit genommen, mit seiner Tochter über den Weihnachtsmarkt zu schlendern. Charlotte schloss kurz die Augen und versuchte die Erinnerung festzuhalten.
»Wollen die gnädige Frau ein Stück Konfekt probieren?«
Charlotte zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie direkt vor einem Stand mit Süßwaren stehen geblieben war. Eine junge Frau mit rosigen Wangen hielt ihr eine Schüssel voll mit zuckerglasiertem Konfekt entgegen. Charlotte zögerte. Da hörte sie eine männliche Stimme: »Es lohnt sich wirklich. Das Konfekt ist gut.«
Charlotte drehte sich neugierig um. Neben ihr stand ein junger Mann. Er war einen Kopf größer als Charlotte und sah sie freundlich an. Seine Augen waren von einem auffallend tiefen Dunkelbraun. Auf dem Kopf trug er statt eines Huts eine der Kappen, die sich bei jungen Handwerkergesellen durchgesetzt hatten.
»Ich empfehle Ihnen das Konfekt mit der hellrosa Punschglasur. Es ist mit Marzipan gefüllt.«
Beherzt griff Charlotte in die Schüssel und nahm sich ein Stück. Vorsichtig biss sie hinein. Es schmeckte himmlisch. Sie hatte gar nicht gewusst, dass man am Weihnachtsmarkt derart köstliches Konfekt kaufen konnte. Charlotte konzentrierte sich auf das süße Aroma in ihrem Mund und sagte: »Vanille! Marzipan und Krokant.«
»Sie verfügen über einen sehr feinen Geschmackssinn.«
»Ich liebe Vanille! Meinetwegen könnten alle Süßspeisen danach schmecken«, erklärte Charlotte und schob sich den Rest des Konfekts in den Mund.
»Ja, Vanille passt zu vielen Süßwaren.«
»Aber auch das Marzipan ist viel feiner als jedes, das ich bisher gegessen habe.« Charlotte schleckte ihren Zeigefinger ab und vergrub ihn dann wieder in ihrem Muff aus weichem Kaninchenfell.
»Kein Wunder, denn es wurde aus Mandelkernen hergestellt.«
»Ich dachte, das wird Marzipan immer?«, fragte Charlotte verwundert.
»Leider nicht immer. Oft werden statt der Mandelkerne Pfirsichkerne verwendet. Dann schmeckt das Marzipan bitterer, ist aber weitaus billiger.« Der junge Mann hatte sich lässig an den Verkaufstresen gelehnt und musterte Charlotte ungeniert.
»Sie scherzen«, sagte sie.
Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf, sodass die Kappe verrutschte und ihm hellblonde Locken in die Stirn fielen.
»Nein, Sie schmecken soeben den Unterschied. Greifen Sie noch einmal zu.« Die junge Frau hinter dem Verkaufspult hielt Charlotte wieder die Schüssel hin. Diesmal nahm sie ein Stück, das mit Marzipan überzogen war, und musste zugeben, dass sie nie zuvor etwas Vergleichbares gegessen hatte.
»Woher wissen Sie das mit den Pfirsichkernen?«, fragte sie neugierig.
Der junge Mann zuckte mit den Schultern: »Ich bin Zuckerbäcker und habe in einer großen Konditorei gelernt. Den Namen will ich nicht nennen, weil ich die Konkurrenz nicht schlechtmachen möchte.«
»Und jetzt arbeiten Sie nicht mehr dort«, schlussfolgerte Charlotte.
»Ich habe mich noch nicht vorgestellt«, sagte er und hob seine Kappe kurz in die Höhe. Wieder rutschten Locken hervor, diesmal blies er sie zurück. »Mein Name ist Richard
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