Schneegestöber (German Edition)
plötzlich: dieses seltsame Pfeifen. Es war kaum zu hören, und ich habe es damals auch nicht beachtet. Ich hatte viel zuviel damit zu tun, mich um meine Braut zu kümmern, die ohne Vorwarnung lautlos zusammengesackt war. Einige Freunde haben mir dann geholfen, sie in die Kutsche zu tragen. Und dann blieb es mir überlassen, mich um die aufgeregten Hochzeitsgäste zu kümmern. Neugierige Fragen zu beantworten und schadenfrohes Grinsen über mich ergehen zu lassen. Da habe ich das Pfeifen ganz vergessen. Bis ich es heute wieder vernahm.«
»Sagtest du nicht, Lady Silvie habe in der Kommode gekramt?« wollte Al nachdenklich wissen. »Vielleicht lohnt sich der Blick in die Schublade. Möglicherweise bringt uns dies unserem Ziel näher, die gute Dame endlich zu fassen.«
Der Earl war mit einem Satz auf den Beinen und riß die Tür auf. Er drehte sich zu Kitty um. »Geben Sie mir den Schlüssel«, forderte er sie auf und streckte die Hand aus.
Kitty hatte sich ebenfalls erhoben. »Ich habe den Schlüssel steckenlassen«, erklärte sie. Mit großen Schritten stürmte der Earl den Gang entlang. Al und Kitty folgten ihm. Atemlos erreichten sie den westlichen Flügel, liefen den Korridor zum Schulzimmer hinunter und erstarrten. Der Schlüssel war verschwunden. Das Zimmer war wieder versperrt.
Der nächste Tag begann ruhig und ohne irgendwelche Zwischenfälle. Es hatte am Vormittag wieder leicht zu schneien begonnen. Am Nachmittag klarte es dann plötzlich auf, und sogar ein Stück blauerHimmel kam zum Vorschein. Kitty verbrachte den Tag damit, Mrs. Bobington in der Küche zu helfen. Die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest waren in vollem Gange. Für den Früchtekuchen, den die Köchin backen wollte, mußten Eier schaumig gerührt und kandierte Früchte kleingeschnitten werden. Die silbernen Tischaufsätze waren zu putzen und die feingeschliffenen Kristallgläser zu polieren. Zwischendurch schlich sie sich immer wieder unbemerkt in den Westflügel hinauf. Doch das Zimmer, in dem sie Lady Silvie entdeckt hatte, blieb versperrt. Al war, nachdem er die Pferde versorgt hatte, mit einer Leiter in den Wald gegangen, um Misteln zu schneiden. Diese wollte er, einem alten Brauch gemäß, über den Türen aufhängen. Am Nachmittag setzte er sich zu Kitty in die Küche, griff zu einem weichen Tuch und half ihr bei ihrer Arbeit.
Mary Ann. und der Earl hatten sich gleich nach dem Frühstück in die Bibliothek zurückgezogen. Sie lasen die nächsten Akte des Sommernachtstraumes, besprachen, was Shakespeare an manchen Stellen gemeint haben könnte, dachten sich die absurdesten Theorien aus, lachten viel, und obwohl sie sich in ihren Diskussionen selten einig waren, vergingen die Stunden in vertrauter Harmonie. Am Nachmittag hielt es Seine Lordschaft für angebracht, sich um Paulina zu kümmern. Er fand sie auf dem kleinen Sofa im Wohnzimmer sitzend vor. Sie las ihrer Mutter, die sich mit einer Stickerei neben dem Feuer niedergelassen hatte, Gedichte von Lord Byron vor. Er setzte sich Paulina gegenüber auf einen Fauteuil und hörte ihr zu. Ihre Stimme war weich und wohlgeschult. Dennoch konnte er ihrem Vortrag kaum folgen. Er sah ihre feingeschwungenen zartrosa Lippen und dachte daran, wie es sein würde, sie zu küssen. Ob Paulina dabei weniger distanziert und gesittet sein würde? Das wäre sicher erfreulich. Aber wenn nicht, dann war das auch halb so schlimm. Er wollte Sie ja schließlich heiraten, und kein Mann der Gesellschaft erwartete von seiner Frau leidenschaftliche Hingabe. Wo Mary Ann wohl war? War es nicht seltsam, daß sie sich immer wieder zurückzog, statt in den Salon zu kommen, um mit den Aldwins zu plaudern? Was tat sie in diesen Stunden, wenn sie alleine war? Gab es vielleicht einen Mann im Haus, der ihm noch nicht aufgefallen war? Einen DienerVielleicht? Dann mußte er eingreifen, um Mary Ann vor einer Dummheit zu bewahren. Er vergaß seinen Vorsatz, sich um Paulina zu kümmern, und sprang mit einem Satz auf: »Ich muß zusehen, wo meine Schwester bleibt«, verkündete er und unterbrach dabei ohne zu zögern den Vortrag seiner Auserwählten. Während Paulina die Lippen zusammenkniff, quittierte Mrs. Aldwin den Abgang Seiner Lordschaft mit einem indignierten Kopfschütteln.
St. James fand Mary Ann nach geraumem Suchen im Westflügel des Landsitzes. Sie hatte sich vorgenommen, das Kinderzimmer noch einmal zu durchforschen, in dem Kitty die Miniatur entdeckt hatte. Vielleicht würde sie einen weiteren Fund machen,
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