Schneegestöber (German Edition)
mit jemandem gesprochen. Mit einer Frau schon gar nicht. Was hatte ihn bloß dazu veranlaßt? Warum kränkte es ihn, daß Mary Ann seine Handlungen nicht würdigte? Daß sie ihm widersprach, nicht mit stummer Verehrung zu ihm aufblickte? Er wollte nicht, daß sie den Auftrag, Silvie Westbourne zu suchen, zurückgab. Warum also forderte er sie dazu auf? Mary Ann hatte seinen Vorschlag mit einem spöttischen Lächeln quittiert: »Ihnen die zweihundert Pfund zurückzahlen, Mylord?« Ihre Stimme klang ruhig. »Da irren Sie sich gewaltig. Ich habe mir das Geld schwer verdient. Wenn ich daran denke, wieviel Zeit ich in diesem düsteren, unheimlichen Haus zugebracht habe, wenn ich daran denke…«
»Ja, wo wäre das gute Fräulein denn sonst gewesen?« fragte er ebenso spöttisch zurück. »Auf einem feudalen Schloß vielleicht? Im Palast des Prinzregenten?«
Mary Ann mußte sich eingestehen, daß dieser Einwand berechtigt war, doch sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als dies zuzugeben. »Ganz richtig«, bestätigte sie kalt. »Und nun sollten sich Mylord besser in den Salon zurückbegeben. Sicher ist Miss Paulina Aldwin nicht erfreut darüber, daß Sie sie abermals allein gelassen haben. Es wird Zeit, ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken, Mylord. Sonst besteht die Gefahr, daß Ihnen diese Dame auch noch wegläuft.«
Der Earl konnte seinen Ohren nicht trauen. Wie kam sie dazu, ihn zu verspotten? Er trat direkt vor sie hin und blickte ihr streng in die Augen. Am liebsten hätte er sie geohrfeigt, hätte sie an den roten Haaren gezogen, hätte sie an den Schultern gerüttelt, sie übers Kniegelegt und verprügelt, sie… und da zog er sie in seine Arme und küßte sie. Es war kein zärtlicher Kuß, nicht sanft und liebevoll. Dazu war er jetzt bei Gott nicht in der Stimmung. Nein, er küßte sie wild und leidenschaftlich. Und der Kuß wurde noch stürmischer, als er zu seiner Überraschung feststellte, daß sie ihn erwiderte. Doch dann, ohne jedes Vorzeichen, stieß sie ihn von sich und stürmte an ihm vorbei aus dem Zimmer.
Der Earl runzelte die Stirn und blickte ihr gedankenverloren nach. Was war nur in ihn gefahren? Was hatte ihn dazu getrieben, Mary Ann zu küssen? Er mochte sie doch nicht einmal richtig. Sie hatten sich eben gestritten. Er wischte sich mit der Hand über die Augen, als könne er seine Gedanken mit dieser Handbewegung ins reine bringen. Allein, es gelang ihm nicht. Es war höchste Zeit, daß er von Bakerfield-upon-Cliffs wegkam. Es war höchste Zeit, daß er in die Welt zurückkam, in der er zu Hause war. Er würde Paulina Aldwin einen Heiratsantrag machen, sobald sich dazu die Gelegenheit ergab. Am besten noch heute. Wenn es nicht weiterschneite, dann konnte er seine Verlobte bald in die Hauptstadt zurückbringen. Ja, das würde er tun. Je früher er sich endgültig von Mary Ann verabschieden konnte, je besser für seinen Seelenfrieden.
XXI.
Das Dinner gestaltete sich ebenso langweilig und unerfreulich wie die Abende zuvor. Mrs. Aldwin und Kaplan Finch führten eine laute Unterhaltung, ohne auf die anderen, die sich um den großen Eßtisch versammelt hatten, Rücksicht zu nehmen. Der Hausherr selbst hatte diesmal Mr. Aldwin gebeten, an seiner Linken Platz zu nehmen. Sie unterhielten sich mit gedämpfter Stimme über die Bewässerungsanlage, die Viscount Bakerfield im nächsten Frühjahr auf den Feldern seiner Pächter installieren wollte. Mr. Aldwin hatte bereits Erfahrung mit derartigen Einrichtungen gesammelt und stand nun nicht an, dem Onkel seiner Frau gute Ratschläge zu erteilen.
So entging dem Viscount die Rede seines Kaplans, der sich mit weinerlicher Stimme wortreich über den Sittenverfall der modernen Zeit beklagte: »Und ich sage Ihnen, Mylady«, meinte er an Mrs. Aldwin gewandt, »es wird ein schlechtes Ende nehmen. Ein berittener Bote hat heute die Zeitung vorbeigebracht. Er war ganze drei Tage zu spät dran, wie ich anmerken möchte. Doch auf diese Burschen ist ja nie Verlaß. Und was brachte er mir, eine Zeitung, die strotzte vor haarsträubenden Karikaturen. Haben Sie gesehen, Mylady. Dieser Geselle, dieser unchristliche Mensch, anständig zeichnen hat er nie gelernt. Aber unsere königliche Hoheit; den Prinzregenten verspotten, dazu ist der noch allemäl fähig.« Mr. Finch wurde nicht müde, den Zeichner zu verdammen, der es gewagt hatte, seine Königliche Hoheit als fetten, nichtsnutzigen Verschwender darzustellen. Seine glühende Rede gipfelte in dem mit erhobenem
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