Schneegestöber (German Edition)
Worten schilderte Kitty ihre täglichen Erkundungsgänge. Al kannte ihre Schilderungen bereits, der Earl hörte ihr interessiert zu. »Und heute, als ich mich in der Frühe wieder unbemerkt in den Westflügel schleiche, ist wider Erwarten die Tür offen. Die letzten Tage, seitdem ich das Schnappen des Schlosses gehört hatte, war sie stets versperrt gewesen. Doch nun, als ich vorsichtig die Klinke hinunterdrücke, gibt sie nach. Sie können sich vorstellen, wie mein Herz vor Aufregung geklopft hat. Ich habe sofort gemerkt, daß sich die Tür geräuschlos öffnen ließ. Im Unterschied zu den anderen Türen im Haus, die quietschen und knarren, wenn man sie öffnen will. Ich spähe also durch den Türspalt und sehe, daß der Raum nicht leer ist. Eine junge Dame in einem weinroten Samtkleid steht, mir den Rücken zuwendend, über die offene Schublade einer Kommode gebeugt. Ihre blonden Locken waren mit einem schlichten Band gehalten. Der Luftzug muß die junge Frau auf mich aufmerksam gemacht haben. Jedenfalls fuhr sie herum, schrie auf und hob abwehrend die Hände. Ihr konnte euch nicht vorstellen, wer sie war. Ich habe sie sofort wiedererkannt. Es war Barbara, ich meine das Kind, das ich am Tag unserer Ankunft kennengelernt habe. Erinnern Sie sich?«
»Ein Kind, Missy?« erkundigte sich Al über den Rand seiner Tasse hinweg. »Sagtest du nicht eben, du hättest eine junge Dame gefunden?«
»Mir scheint wohl eher, Sie sind wirklich auf Silvie Westbourne gestoßen«, erklärte der Earl hoffhungsfroh.
»Ja, das glaube ich auch«, bestätigte Kitty. »Und doch, erinnert ihr euch, daß ich euch von Barbara erzählt habe? Dem Kind, das keinerkennen wollte? Nun weiß ich auch, warum sie niemand kannte. Weil Barbara nämlich gar nicht existiert.« Sie blickte triumphierend in die Runde.
»Willst du uns weismachen, du hättest einen Geist gesehen? Barbaras Geist?« erkundigte sich Al, und es war ihm deutlich anzumerken, daß er Kittys Erzählung nicht ganz ernst nahm.
Kitty stampfte mit dem Fuß auf: »Natürlich habe ich keinen Geist gesehen. Was ich sagen will, ist, daß es gar keine Barbara gibt. Es war Lady Silvie, die ich an jenem Abend sah. Sie hatte sich hinter der Balustrade versteckt. Sie machte sich kleiner. Und als ich sie ansprach, verstellte sie mit Absicht ihre Stimme. In der Dunkelheit habe ich sie tatsächlich für ein Kind gehalten. Vor einigen Tagen jedoch, an dem Tag, als das Zimmer zugesperrt wurde, fand ich eine Miniatur. Ich hab dir doch das Bild gezeigt, Al. Mrs. Bobington hat es mir schließlich weggenommen. Ich dachte zuerst, das Bild zeige Barbara, doch die Haushälterin sagte, es sei eindeutig Lady Silvie, die darauf abgebildet war. Also war das auch Lady Silvie in dem Zimmer.«
St. James nickte: »Und weiter?« fragte er gespannt.
»Ich sah, daß der Schlüssel des Schulzimmers von innen im Schloß steckte«, erklärte Kitty. »Rasch griff ich danach. Ich habe Lady Silvies Überraschung ausgenützt, die Tür zugeworfen und abgesperrt. Und dann habe ich noch den schweren Sessel vor die Tür gerückt. Ich wollte keinesfalls zulassen, daß Lady Silvie abermals verschwinden könnte. Und dann bin ich hierhergelaufen, um Sie zu holen, Sir.«
»Du hast sie also eingesperrt? Sehr gut, Missy. Tadellos gemacht«, lobte Al vergnügt. Seine Stimme klang nach dem Genuß des heißen Getränkes schon eine Spur weniger heiser. »Die Frage ist nur: Wo ist die junge Lady hingekommen? Denn wenn ich euch recht verstanden habe, dann war sie nicht mehr im Zimmer, als ihr zurückkamt.«
Kitty zuckte mit den Schultern: »Vielleicht hatte sie einen zweiten Schlüssel«, mutmaßte sie.
»Haben Sie das Pfeifen gehört?« wollte St. James wissen. Kitty sah ihn fragend an. Er versuchte, die Töne nachzuahmen, die er gehört hatte. Es gelang nicht gerade meisterlich.
Kitty überlegte: »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Es kann sein. Es muß aber nicht sein. Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Pfeifen? Warum ist das so wichtig?« wollte Al wissen und goß sich erneut seine Tasse voll. »Meinen Sie, daß das Pfeifen irgendeine Bedeutung hat?«
»So ist es«, nickte der Earl. »Bei meiner Hochzeit, ich meine bei meiner mißglückten Trauung mit Silvie, da habe ich dieses Pfeifen schon einmal gehört. Ich hatte eben meine Trauungsformel gesprochen und wartete darauf, daß Silvie dies ebenfalls tun würde. Alle warteten darauf. Gespannte Stille füllte das Kirchenschiff. Doch Silvie zögerte. Und da war es
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