Schneegestöber (German Edition)
Chertsey in ihre Heimatstadt Bath zurückgekehrt, mit einem exzellenten Zeugnis in der Tasche, in dem ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in höchsten Tönen gelobt wurden. Sie hatte sich bei Mrs. Clifford beworben und wurde auf der Stelle eingestellt. Seit diesem Tag unterrichtete sie die Mädchen in »Geschichte adeliger Häuser«, wie Mrs. Clifford diesen Unterrichtsgegenstand nannte. Miss Chertsey konnte den Stammbaum der wichtigsten Familien auswendig auf die Tafel zeichnen. Wußte die Lebensgeschichte der wichtigsten Persönlichkeiten, klärte die Schülerinnen über verwandtschaftliche Beziehungen innerhalb der Familien auf und zeigte Bilder der Adeligen und beschrieb deren Landsitze. Da sie ihren Vortrag flott und lebendig zu gestalten wußte – und da sie diesen auch mit zahlreichen den Klatschspalten der Zeitungen entnommenen Tratschgeschichten garnierte, ein Umstand, der der gestrengen Mrs. Clifford keinesfalls zu Ohren kommen durfte –, war ihr Unterricht das Lieblingsfach der meisten Mädchen. Besonders Mary Ann folgte gebannt ihren Ausführungen. Sie hatte sich bereits selbst von ihrem spärlichen Taschengeld eine Ausgabe von Kenneth’ Adelsregister gekauft, in dem sie in freien Stunden gerne schmökerte. Natürlich gab es dann auch noch Unterricht in Zeichnen, Malen, Gesang und Klavierspiel. Jeden Donnerstag kam ein Tanzlehrer, um die Mädchen in die Kunst der Quadrille und der ländlichen Tanzfolgen einzuweihen. Und erst kürzlich hatte Mrs. Clifford sich erweichen lassen, denSchülerinnen das Erlernen des neuartigen Walzers zu erlauben. Ein Tanz, der ihr doch ein seltsam frivoles Vergnügen zu sein schien. Wenn sich aber die Londoner Gesellschaft diesem Vergnügen hingab, ja wenn sogar die strengen Patronessen des noblen Almack Clubs nichts gegen einen Walzer unter ihrer Aufsicht einzuwenden hatten, dann konnte sich auch Mrs. Clifford den modischen Sitten nicht verschließen. Sie selbst unterrichtete ihre Schützlinge in Etikette und Haushaltsführung. Bereiche, die für angehende adelige Ehefrauen von allergrößter Wichtigkeit waren. Natürlich wurde von den Mädchen nicht verlangt, daß sie selbst kochten oder gar andere Handgriffe im Haushalt übernahmen. Statt dessen wurden sie gelehrt, die Dienerschaft zielführend zu beschäftigen, mit der Köchin den Speiseplan zu erstellen und ein Bankett für mehr als hundert geladene Gäste auszurichten. Rechnen, das ausreichte, um die Buchführung der Haushälterin zu kontrollieren, rundete die Ausbildung ab. Zudem lernten die Mädchen reiten – soweit sie sich dabei nicht zu ungeschickt anstellten wie Mary Ann Rivingston. Diese hatte nach dem dritten Abwurf beschlossen, sich nie mehr in den Sattel zu schwingen. Als weitere Besonderheit der Schule galt es, daß es den Schülerinnen erlaubt war, eigene Pferde ins Internat mitzubringen. Auch Fahrzeuge konnten untergestellt werden. Dies allerdings nur unter der Bedingung, daß ein eigener Pferdeknecht, der über den Ställen wohnte und von den Familien gesondert bezahlt wurde, sich um Wagen und Tiere kümmerte. Und daß dieser bei Ausfahrten die Gespanne lenkte. Denn bei allem Verständnis für zeitgemäße Erziehung konnte sich Mrs. Clifford eine Dame auf dem Kutschbock beim besten Willen nicht vorstellen. Mary Ann stand aufgrund ihrer knapp bemessenen Mittel keine eigene Kutsche zur Verfügung. Doch natürlich hatte Kitty, die reichste Erbin, die derzeit bei Mrs. Clifford unterrichtet wurde, sowohl eine geschlossene Kutsche als auch einen Phaeton in der Wagenhalle stehen. Mit diesen Gefährten konnte ihre Freundin ausfahren, sooft sie wollte. Zur Zeit standen die beiden Fahrzeuge jedoch ungenützt in der Remise, nachdem Kitty vor drei Wochen Joe, den Reitknecht, hinausgeworfen hatte. Sie war ihm auf die Schliche gekommen, daß er regelmäßig an ihre Tante nach London Bericht erstattete. Einen Spion wollte sie keinesfalls in ihrerNähe dulden. Die Briefe, die Mrs. Clifford an Mylady in regelmäßigen Abständen schrieb, waren unangenehm genug. Was konnte sie denn dafür, daß sie das heißblütige Temperament ihrer lieben Mama geerbt hatte? Es war doch nicht ihr Fehler, daß die verknöcherten englischen Ladys ihr Verhalten als ungestüm bezeichneten. Und daß sie sich jedesmal über Gebühr aufregten, wenn sie, deren Meinung nach, gegen die Konventionen verstoßen hatte.
Wehmütig dachte sie an ihre Kindheit in Madrid zurück. Ihr Vater war Gesandter der englischen Botschaft gewesen, als er eine junge
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