Schneegestöber (German Edition)
Schülerinnen würden die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbringen. Die Vorbereitungen für die Heimreise hatten begonnen. Die Unterrichtsstunden wurden dazu genutzt, Geschenke für die Lieben zu Hause zu fertigen. Taschentücher wurden mit feinen Spitzen umhäkelt, Bildchen gestickt oder Aquarelle gemalt. Der Schulchor probte Lieder für die Weihnachtsfeier, zu der auch die Eltern der Mädchen geladen waren. Aus der Küche drangen verlockend die Düfte von Zimt und Honig. Von all dem bekam Kitty nichts mit. Sie blieb, wie befohlen, weiterhin aufihrem Zimmer. Den Stuhl dicht an den Kamin geschoben, die Beine auf einen Hocker gelegt, saß sie da und grübelte. Heute morgen war Tante Janes Brief eingetroffen. Kitty hatte mit ihrer Befürchtung recht gehabt. Lady Farnerby hatte entschieden, sie zu Mrs. MacWetherby nach Glasgow zu schicken. In den nächsten Tagen würde eine Kutsche kommen, um die unbelehrbare Nichte abzuholen. Mylady selbst liege mit einer kleinen Influenza darnieder, hatte sie Mrs. Clifford geschrieben, so daß sie sich außerstande sehe, sich selbst nach Bath zu bemühen. Keineswegs fühle sie sich gesundheitlich in der Lage, sich den Strapazen einer Reise in den Norden auszusetzen. Im übrigen wollte sie wissen, was es mit einem Stallburschen namens Al Brown auf sich habe, von dem ihr Mrs. Clifford geschrieben und um eine Entscheidung über dessen weiteres Schicksal gebeten hatte. Sie selbst kenne keinen Al Brown und könne mit Sicherheit sagen, daß sie einen Mann dieses Namens weder eingestellt noch zu ihrer Nichte nach Bath geschickt habe. Zum Abschluß des Briefes sparte Mylady nicht mit Kritik an der Schule und schalt Mrs. Clifford dafür, daß es ihrer Nichte überhaupt gelungen war, sich bei Nacht und Nebel aus dem Schulhaus zu schleichen. Zum Glück für die Mädchen war die Direktorin durch diese ungerechten Rügen derart aufgebracht, daß sie sich nicht näher mit den Aussagen über Al Brown befaßte. Sobald sie jedoch zur Ruhe gekommen war, würde sie dies ohne Zweifel tun, und dann würde sie eine Erklärung über die Herkunft des Reitknechts verlangen. Was sie wohl sagen würde, wenn sie noch einem Schwindel der Mädchen auf die Schliche kam? Kitty seufzte. Dies war ein weiterer Grund, umgehend eine Lösung für ihre schier aussichtslose Lage zu finden. Al kümmerte sich rührend um Salomon, den sie ja zur Zeit selbst nicht reiten durfte. Er sorgte bestens für die Kutschpferde. Und er hatte den Wagen auf Hochglanz poliert, wie ihr Mary Ann mitgeteilt hatte. Nein, der Bursche verdiente es nicht, daß man ihn ohne Zeugnis davonjagte. Er würde nie wieder eine Anstellung als Reitknecht finden. Zudem war nun Winter. Die Ernte war längst eingefahren. Die Bauern suchten keine Hilfskräfte mehr. Sie würden Al nicht vor dem Frühjahr in ihren Dienst stellen. Kitty seufzte abermals. Die Verantwortung lastete schwer auf ihren Schultern. Dazu kam, daß sie im Moment sehrknapp bei Kasse war. Der Quartalsscheck wäre Anfang dieses Monats fällig gewesen. Er hatte sie aber noch nicht erreicht. Was wohl der Grund für diese Verzögerung war? An Tante Janes Groll über ihr ungebührliches Verhalten konnte es nicht liegen. Denn das Geld bekam sie nicht von Lady Farnerby. Das bekam sie von deren Halbbruder Lord St. James, ihrem… Kitty sprang auf und klatschte in die Hände: ihrem zweiten Vormund! Sie hatte in ihrer Aufregung Lord St. James völlig vergessen. Doch nun erschien er ihr als die Lösung all ihrer Probleme. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mary Ann kam vom Musikunterricht zurück. Freudlos warf sie ihre Noten auf den Schreibtisch: »Wenn ich an Weihnachten denke, wird mir übel«, sagte sie mit trostloser Stimme. »Es wird sein wie jedes Jahr. Die Kinder werden so aufgeregt sein, daß sie quengeln und streiten, meine Schwägerin wird mit ihnen schimpfen und schließlich in Tränen ausbrechen. John wird lehrreiche Geschichten vorlesen…«
»Laß ihn doch!« rief Kitty dazwischen. »Du wirst sie nämlich nicht hören. Schließ die Tür, Mary Ann. Ich habe endlich die Lösung für all unsere Probleme gefunden!«
Mary Ann tat, wie ihr geheißen, und blickte neugierig zu Kitty hinüber. »Ich habe noch einen zweiten Vormund, wie du weißt«, begann diese.
Mary Ann nickte: »Myladys Bruder.«
»Ihr Halbbruder«, berichtigte sie Kitty. »Lady Farnerbys Mutter hat zweimal geheiratet. Tante Jane und mein Papa entstammen der ersten Ehe. Aus der zweiten Ehe hat sie auch einen Sohn, den
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