Schneegestöber (German Edition)
MacWetherby war für ihre Erziehung verantwortlich. Sie hat ihnen standesgemäßes, damenhaftes Benehmen beigebracht.« Kitty machte eine abfällige Handbewegung. »Nie möchte ich werden wie die beiden. Sie sind einfach überheblich und langweilig. Und ich mag auch die Gouvernante nicht. Doch Tante Jane hält sehr viel von ihr.«
»Ja und?« erkundigte sich Mary Ann. Sie hatte nur mit halbem Ohr Kittys Ausführungen zugehört. Ihre Gedanken kreisten um Reverend Westbourne. »Was hat diese Mrs. MacWetherby mit dir zu tun? Glaubst du, deine Tante holt dich nach London, damit die Gouvernante auch dich erzieht?«
Kitty seufzte. »Wenn es nur das wäre. Doch Mrs. Wetherby ist nicht mehr in London. June und Lizzy haben bereits vor Jahren geheiratet, und da hatte Tante Jane keine Verwendung mehr für die alte Gouvernante. Daher ging diese wieder zu ihrer Familie nach Schottland zurück. Ich habe die Frau einmal kennengelernt, Annie. Sie ist eine verknöcherte alte Jungfer, streng und unnachgiebig. Ich kann den Gedankennicht ertragen, daß mich Tante Jane zu ihr nach Schottland schickt…«
»Aber das kann deine Tante doch nicht tun!« rief Mary Ann dazwischen. »Es ist nicht mehr lange bis Februar. Dann bist du achtzehn, und dein Debüt beginnt. Sicher wird dich Lady Farnerby gleich jetzt zu sich in die Hauptstadt holen.«
Kitty schüttelte resigniert den Kopf. »Wird sie nicht«, seufzte sie.
»Das hat sie mir bereits bei ihrem letzten Besuch angedroht. Wenn Mrs. Clifford noch einmal Grund zur Klage über mein Benehmen hätte, dann würde sie mich nach Schottland schicken. Und mein Debüt verschiebt sich um ein Jahr.«
»Um ein ganzes Jahr?« rief Mary Ann ungläubig. »Das kann ich nicht glauben. Bestimmt ist deine Tante nicht so grausam.«
»Da kennst du sie schlecht.« Kitty seufzte tief. »Sie hat es stets bedauert, daß mich meine spanischen Verwandten nach London geschickt haben. Welche Lady, die zwei wohlerzogene Töchter zu ehrbaren Frauen erzogen hat, möchte sich auch mit einem ungezähmten, wilden Fohlen abgeben…«
»Ungezähmten wilden Fohlen!« rief Mary Ann spöttisch. »Bist mit diesem poetischen Ausdruck etwa du gemeint?«
Kitty nickte, und ihr Humor bekam die Oberhand über ihre tristen Gedanken: »Ja«, kicherte sie. »Es war Tante Jane persönlich, die mich so nannte.«
»Ich wollte, Mrs. Clifford hätte John aufgefordert, mich von der Schule zu nehmen«, überlegte Mary Ann. »Was mein lieber Bruder wohl mit mir machen würde?«
»Na, was wohl?« entgegenete Kitty nicht gerade aufmunternd. »Er würde dich nach Ringfield Place holen, und du könntest auf seine beiden Söhne aufpassen. So wie du das doch in den Ferien auch immer tust. Und er würde dich von allen männlichen Wesen fernhalten. Damit du ja nicht auf den Gedanken kommst zu heiraten, bevor du fünfundzwanzig Jahre alt bist.«
Mary Ann seufzte: »Du hast recht. Obwohl mir im Augenblick nicht der Sinn nach heiratsfähigen Männern steht Das Erlebnis mit Reverend Westbourne genügt mir.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. »Ich wollte, ich hätte ihm die Ohrfeige gegeben.«
Kitty kicherte: »Ich habe diese Aufgabe gerne für dich übernommen«, sagte sie und umarmte ihre Freundin herzlich.
»Wie soll ich es nur aushalten ohne dich«, fragte Mary Ann traurig.
»Die Schule wird unerträglich werden.«
»Wir werden beisammenbleiben, liebe Freundin, das verspreche ich dir«, meinte Kitty zuversichtlich. Mary Ann befreite sich aus der Umarmung und blickte Kitty erstaunt an: »Aber wie soll das gehen?« erkundigte sie sich. »Du bist in Schottland, ich bin hier…«
»Ich werde nicht nach Schottland gehen?«, verkündete Kitty bestimmt.
»Nicht nach Schottland gehen?« wiederholte Mary Ann mit leuchtenden Augen. »Aber wie willst du das anstellen? Wie willst du deine Tante von ihrem Vorhaben abbringen? Hast du schon einen Plan?«
Kitty schüttelte den Kopf: »Nein, aber mir wird schon etwas einfallen«, sagte sie mit mehr Zuversicht, als sie tatsächlich empfand. »Ich darf ja den Unterricht nicht mehr besuchen. Da habe ich nun genug Zeit, darüber nachzudenken.«
VIII.
Die nächsten Tage vergingen zäh und langsam. Der Dezember war ins Land gezogen. Mit ihm die ersten leichten Schneefälle. Es war bitterkalt geworden. Vor allem in den Nächten, wenn der zunehmende Mond sich am sternenklaren Himmel zeigte, sanken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt. Im Institut von Mrs. Clifford herrschte emsiges Treiben. Alle
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