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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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möglicherweise tot war. Und dass er Camilla lieber an einen Mörder verloren hätte als auf diese Weise. Am meisten aber dachte Erik Lossius, dass er Camilla wirklich geliebt haben musste. Und sie noch immer liebte. Er hatte ihre Eltern angerufen, aber auch sie hatten nichts von ihr gehört. Vielleicht wohnte sie bei einer ihrer vornehmen Freundinnen, die er alle nur vom Hörensagen kannte, im Westen der Stadt.
    Er starrte ins nachmittägliche Dunkel, das sich langsam über Groruddalen senkte, das Tal immer weiter ausfüllte und schließlich tilgte. Hier gab es heute nichts mehr zu tun, aber er wollte auch noch nicht nach Hause fahren, in dieses viel zu große, viel zu leere Haus. Noch nicht. Hinter ihm stand eine Kiste mit diversen Spirituosen, sogenanntem Transit-Schwund aus diversen Barschränken. Aber er hatte kein Wasser zum Mixen. Also goss er sich Gin in eine Kaffeetasse, konnte aber nur einen kleinen Schluck nehmen, bevor das Telefon klingelte. Eine Nummer aus Frankreich wurde auf dem Display angezeigt. Keiner von der Klägerliste, dachte Erik und nahm das Gespräch entgegen.
    Er erkannte sie an ihrem Atmen, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte.
    “Wo bist du?”, fragte er.
    “Was glaubst du denn?” Ihre Stimme klang weit entfernt. “Und von wo rufst du an?”
    “Von Caspar.”
    Das war das Cafe, das drei Kilometer von ihrem Ferienhaus entfernt lag.
    “Camilla, du wirst gesucht.” “Wirklich?”
    Es hörte sich an, als liege sie irgendwo in der Sonne, langweile sich und spiele das Interesse nur mit ihrer höflichen, distanzierten Kälte, in die er sich seinerzeit auf der Terrasse in Blommenholm so verliebt hatte.
    “Ich … “, begann er. Hielt dann aber inne. Was wollte er eigentlich sagen?
    “Ich fand es besser, dich selbst anzurufen, bevor unser Anwalt es tut”, verkündete sie.
    “Unser Anwalt?”
    “Der Anwalt meiner Familie”, korrigierte sie sich. “Einer der besten Scheidungsanwälte, fürchte ich. Er wird bestimmt die Hälfte unseres gesamten Besitzes verlangen. Wir werden das Haus verlangen und es auch bekommen, wobei ich dir nicht verschweigen will, dass ich es verkaufen werde.”
    Natürlich, dachte er.
    “Ich komme in fünf Tagen nach Hause. Ich setze voraus, dass du bis dahin ausgezogen bist.”
    “Das ist ein bisschen kurzfristig”, entgegnete er.
    “Du wirst das schon hinkriegen. Ich habe mir sagen lassen, dass das keiner schneller und billiger erledigen kann als deine Firma.”
    Das Letzte warf sie mit einer solchen Verachtung hin, dass es ihm den Hals zuschnürte. Genau wie bei dem Gespräch mit diesem Hauptkommissar. Er fühlte sich wie ein zu heiß gewaschenes Kleidungsstück, er war ihr zu klein geworden, zu nichts mehr zu gebrauchen. Und mit der gleichen Sicherheit, mit der er spürte, wie sehr er sie in diesem Augenblick liebte, wusste er auch, dass er sie unwiderruflich verloren hatte. Es würde keine Versöhnung geben. Nachdem sie aufgelegt hatte, sah er sie in die Sonne der französischen Riviera blinzeln. Die Augen gut verborgen hinter einer Sonnenbrille, die sie für zwanzig Euro gekauft hatte, die an ihr aber aussah wie ein Zwanzigtausend-Kronen-Modell von Gucci oder Dolce & Gabbana oder … Die Namen der anderen Marken hatte er vergessen.
     
    Harry fuhr den Hang im Westen der Stadt hinauf. Dann stellte er den Wagen auf dem großen, leeren Parkplatz der Sportanlage ab und stieg zum Holmenkollen hoch. Dort stellte er sich auf die Aussichtsplattform neben dem Schanzentisch und schaute gemeinsam mit einigen Touristen, die sich in der Jahreszeit geirrt zu haben schienen, über die leeren Tribünen an beiden Seiten des Aufsprunghangs, über den Teich am Hangende, der im Winter abgelassen wurde, und die Stadt, die sich um den Fjord herumzog. Aussicht gibt Übersicht. Sie hatten keine konkrete Spur. Dabei war ihnen der Schneemann so nah gewesen, dass sie das Gefühl gehabt hatten, sie müssten nur die Hand ausstrecken, um ihn zu schnappen. Doch dann hatte er sich wie ein gerissener, routinierter Boxer wieder außer Reichweite gebracht. Der Hauptkommissar fühlte sich alt, schwer und plump. Einer der Touristen betrachtete ihn. Der schwere Revolver zog den Mantel auf der rechten Seite etwas nach unten. Und die Leichen, wo zum Teufel waren die Leichen? Selbst wenn er sie vergraben hatte, mussten sie doch eines Tages wieder auftauchen. Oder benutzte er Säure?
    Harry spürte die Resignation in sich aufkeimen. Verdammt noch mal, nein! Beim FBI-Kurs hatten sie Fälle

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