Schneemann
spartanisch, ordentlich. Wie bei ihm selbst. Dann fiel der Lichtschein auf ein Gesicht, das ihn regungslos anstarrte. Und ein weiteres Gesicht. Und noch eins. Schwarze Holzmasken mit Schnitzereien und aufgemalten Mustern.
Er sah auf die Uhr. Elf. Ließ das Licht weiterwandern. Über dem einzigen Stuhl im Raum waren Zeitungsausschnitte an die Wand geheftet worden. Sie bedeckten die ganze Fläche vom Boden bis unter die Decke. Er trat näher und ließ seinen Blick über die Ausschnitte gleiten, während er spürte, dass sein Puls wie ein Geigerzähler zu ticken begann.
Es waren Mordfälle.
Viele Mordfälle, zehn bis zwölf, einige davon so alt, dass das Zeitungspapier vergilbt war. Aber er erinnerte sich klar und deutlich an jeden einzelnen, denn diese Fälle hatten eines gemeinsam:
Er selbst hatte die Ermittlungen geleitet.
Auf dem Tisch, auf dem ein PC und ein Drucker standen, lagen ein paar Mappen mit Ermittlungsberichten. Er öffnete eine davon. Es war keiner seiner Fälle, sondern der Mord an Laila Aasen oben auf dem Ulriken. Die zweite betraf das Verschwinden von Onny Hetland in Bergen. Die dritte Mappe die Anklage wegen Gewaltausübung im Dienst gegen Gert Rafto. Harry blätterte weiter und entdeckte das Bild von Rafto, das er auch im Büro von Müller-Nilsen gesehen hatte. Als er es jetzt studierte, hatte er keine Zweifel mehr.
Neben dem Drucker lag ein Stapel Zettel. Auf dem obersten war eine rasche, amateurhafte Bleistiftzeichnung hingekritzelt worden, aber das Motiv war klar. Ein Schneemann. Das Gesicht war in die Länge gezogen, als würde es schmelzen, mit toten Steinaugen und einer langen, dünnen, nach unten zeigenden Karotte als Nase. Harry blätterte die Zettel durch. Es gab noch mehr Zeichnungen. Immer Schneemänner, meistens nur ein Gesicht. Masken, dachte Harry. Totenmasken. Eines der Gesichter hatte einen Vogelschnabel, an den Seiten kleine, menschliche Arme und unten Vogelfüße. Ein anderes hatte eine Schweinsnase und trug einen Zylinder.
Harry begann die Durchsuchung am Ende des Raumes. Und sagte sich selbst, was er Katrine auf Finnoy gesagt hatte: Mach deinen Kopf frei von Erwartungen und sieh dich einfach mit offenen Augen um: Du darfst nicht nach etwas Bestimmtem suchen. Er blickte in alle Schränke und Schubladen, durchwühlte die Küchenutensilien und Putzmittel, Kleider, exotische Shampoos und fremde Cremes im Badezimmer, in dem noch der Duft ihres Parfüms hing. Der Boden der Dusche war nass, und auf dem Waschbeckenrand lag ein Wattestäbchen mit Resten von Mascara. Er ging wieder nach draußen. Wonach er suchte, wusste er nicht, er wusste nur, dass es nicht hier war. Dann richtete er sich auf und sah sich um.
Falsch.
Es war hier. Er hatte es nur noch nicht gefunden.
Er nahm die Bücher aus den Regalen, öffnete den Spülkasten der Toilette, überprüfte, ob es am Boden oder an den Wänden lose Bretter gab, und drehte die Matratze im Alkoven um. Dann war er fertig. Er hatte überall gesucht. Ohne Resultat. Wäre da nicht der wichtigste Lehrsatz einer jeden Durchsuchung, der besagt, dass ebenso wichtig ist, was man nicht findet. Und Harry wusste jetzt, was er nicht gefunden hatte. Er warf einen Blick auf die Uhr, dann begann er aufzuräumen.
Erst als er die Zeichnungen wieder an ihren Platz legte, fiel ihm ein, dass er den Drucker nicht überprüft hatte. Er zog den Papierbehälter heraus. Das oberste Blatt war gelblich und dicker als die üblichen Printerpapiere. Er nahm es heraus. Es hatte einen speziellen Geruch, als wäre es leicht gewürzt oder verbrannt. Er hielt das Blatt vor die Schreibtischlampe, während er nach Markierungen suchte. Und fand. Ganz unten in der rechten Ecke wurde im Licht der Glühbirne eine Art Wasserzeichen zwischen den feinen Papierfasern sichtbar. Er hatte das Gefühl, als weiteten sich die Adern in seinem Hals und als hätte sein Blut es plötzlich furchtbar eilig. Sein Hirn schrie nach mehr Sauerstoff.
Harry schaltete den PC ein. Sah noch einmal auf die Uhr und lauschte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Rechner alle Programme gestartet hatte und betriebsbereit war. Harry ging direkt zur Suchfunktion und tippte ein einzelnes Wort ein. Dann tippte er auf die Maustaste. Ein fröhlicher, animierter Hund erschien auf dem Bildschirm, hüpfte auf und ab und bellte stumm, um einem die Wartezeit zu verkürzen. Harry starrte auf den Text, der sich mit rasender Geschwindigkeit änderte, während die verschiedensten Dokumente durchsucht wurden. Senkte
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