Schneemann
kleiner Erhebungen mit gelbem, welkem Gras. Die Bäume zeigten mit schwarzen, knorrigen Fingern auf die dunklen Wolken, die von Askoy übers Meer herangetrieben wurden. Ein nervöser Rottweiler zerrte an einer straffgespannten Leine einen Mann hinter sich her. Rafto versicherte sich, dass er seine Smith & Wesson in der Manteltasche hatte, als er am Nordnes-Bad mit seinem leeren weißen Becken vorbeiging, das wie eine überdimensionale Badewanne aussah.
Hinter der Biegung des Weges sah er den zehn Meter hohen Totempfahl, ein Zweitonnengeschenk aus Seattle zum neunhundertjährigen Geburtstag von Bergen. Er hörte seinen eigenen Atem und das Schmatzen seiner Schuhsohlen auf dem nassen Laub. Es begann zu regnen. Kleine, harte Tropfen klatschten ihm ins Gesicht.
Eine einzelne Person stand am Totempfahl und sah in Raftos Richtung, als hätte sie damit gerechnet, dass er über diesen Weg kommen würde.
Rafto umklammerte den Revolver, während er die letzten zehn Meter zurücklegte. Zwei Meter vor der Person blieb er stehen. Kniff die Augen im Regen zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein.
“Überrascht?”, fragte die Stimme, die er erst jetzt einordnen konnte.
Rafto antwortete nicht. Sein Hirn begann erneut zu arbeiten. “Sie dachten wohl, Sie würden mich kennen”, fuhr die Stimme fort. “Dabei kenne nur ich Sie. Und deshalb wusste ich auch, dass Sie das hier im Alleingang machen wollten.”
Rafto starrte vor sich hin.
“Es ist ein Spiel”, sagte die Stimme. Rafto räusperte sich: “Ein Spiel?”
” Ja, Sie spielen doch so gern.”
Rafto legte seine Finger um den Griff des Revolvers und hielt ihn fest, um sicherzugehen, dass sich der Lauf nicht verhakte, sollte er die Waffe schnell ziehen müssen.
“Warum gerade ich?”, fragte er.
“Weil Sie der Beste sind. Und ich nur gegen die Besten spiele.” “Sie sind verrückt”, flüsterte Rafto und bereute es im gleichen
Augenblick.
“In diesem Punkt”, nickte der andere mit der Andeutung eines Lächelns, “gibt es wohl kaum Zweifel. Aber auch Sie sind verrückt, mein Lieber. Das sind wir wahrscheinlich alle. Ruhelose Geister, die nicht mehr nach Hause finden. Das war schon immer so. Wissen Sie, warum die Indianer diese Dinger hier gemacht haben?”
Die Person vor Rafto trug Handschuhe und klopfte mit einem Finger gegen den Holzstamm mit den geschnitzten Figuren, die übereinander hockten und aus großen, blinden Augen über den Fjord starrten.
“Um den Seelen Halt zu geben”, fuhr die Person fort. “Damit sie sich nicht verlaufen. Aber so ein Totempfahl verrottet. Und das soll er auch, das ist ja der Sinn des Ganzen. Ist er erst weg, müssen sich die Seelen eine neue Heimat suchen. Vielleicht in einer Maske. Oder in einem Spiegel. Oder vielleicht auch in einem neugeborenen Kind.”
Vom Aquarium hallten heisere Schreie aus dem Pinguingehege herüber.
“Wollen Sie mir sagen, warum Sie sie getötet haben?”, fragte Rafto und hörte, dass auch er heiser geworden war.
“Schade, dass das Spiel aus ist, Rafto. Es hat Spaß gemacht.” “Und wie haben Sie herausgefunden, dass ich Ihnen auf der Spur bin?”
Als der andere die Hand hob, trat Rafto automatisch einen Schritt zurück. Sein Gegenüber ließ etwas am ausgestreckten Finger baumeln: eine Halskette, an deren Ende ein tropfenförmiger, grüner Stein mit einer schwarzen Kerbe hing. Rafto spürte sein Herz schneller schlagen.
“Onny Hetland wollte zwar erst nichts sagen, aber schließlich hat sie sich dann doch … nun, wie soll ich das sagen … überreden lassen?”
“Sie lügen.” Rafto sagte es tonlos und ohne jede Überzeugung. “Sie hat mir erzählt, Sie hätten ihr Schweigen auferlegt, auch gegenüber Ihren Kollegen. Da war mir klar, dass Sie mein Angebot annehmen würden. Dachten Sie, das hier könnte die neue Heimat für Ihre Seele werden, eine Art Auferstehung?”
Der kalte, dünne Regen legte sich wie Schweiß auf Raftos Gesicht. Er hatte den Finger auf den Abzug des Revolvers gelegt und konzentrierte sich darauf, langsam und beherrscht zu sprechen:
“Sie haben sich für den falschen Ort entschieden. Hinter Ihnen liegt das Meer, und am Ende jedes Weges wartet ein Polizeiwagen. Niemand kann von hier entkommen.”
Der andere schnupperte. “Riechen Sie das, Gert?” “Was?”
“Angst. Adrenalin hat einen ganz bestimmten Geruch. Aber darüber wissen Sie ja selbst Bescheid. Ich bin sicher, Sie haben es auch gerochen, wenn Sie Ihre Häftlinge verprügelt haben. Laila
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