Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
war.
     
    Jonas zeichnete einen Schneemann. Eigentlich sollte er lächeln und singen, er hatte einen fröhlichen Schneemann malen wollen. Aber es gelang ihm nicht. Der Schneemann starrte ihn nur ausdruckslos von dem großen, weißen Papier an. Der riesige Hörsaal um ihn herum war beinahe still. Nur das Kratzen und Klopfen von Vaters Kreide dort vorne auf der Tafel war zu hören, und die Füller der Studenten, die eifrig mitschrieben. Er mochte keine Füller. Wenn man damit schrieb, konnte man nichts ausradieren, nichts verändern, dann blieb alles, was man gezeichnet hatte, für immer da. Als er heute Morgen aufgewacht war, hatte er gedacht, Mama sei wieder zurück und alles wieder in Ordnung. Er rannte ins Schlafzimmer, doch da stand nur Vater, zog sich an und sagte, er solle schnell in seine Kleider springen, da er heute mit in die Universität dürfe. Füller.
    Der Raum fiel zu Vaters Podium hin ab, er erinnerte irgendwie an ein Theater. Vater hatte kein Wort zu den Studenten gesagt, nicht einmal, als er mit Jonas in den Raum gekommen war. Er nickte ihnen nur zu, deutete auf den Platz, auf den Jonas sich setzen sollte, und trat dann an die Tafel, wo er zu schreiben anfing. Die Studenten schienen das gewohnt zu sein, denn sie begannen gleich mitzuschreiben. Die Tafel hatte sich mittlerweile mit Zahlen, kleinen Buchstaben und seltsamen Zeichen gefüllt, die Jonas nicht kannte. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, er schreibe seine Geschichten in einer ganz eigenen Sprache, die man Physik nennt. Als Jonas ihn fragte, ob das auch Märchen seien, erwiderte sein Vater lachend, die Physik sei nur in der Lage, die Wahrheit zu sagen. In dieser Sprache könne man nicht prahlen, selbst wenn man wollte.
    Einige dieser seltsam runden Zeichen waren richtig lustig. Und schön.
    Kreide rieselte auf Vaters Schulter. Eine feine, weiße Schicht, die sich wie Schnee auf den Stoff seiner Jacke legte. Jonas starrte auf den Rücken seines Vaters und versuchte, ihn zu zeichnen. Aber auch das wurde kein fröhlicher Schneemann.
    Plötzlich wurde es vollkommen still im Raum. Alle Füller hatten aufgehört zu schreiben. Denn die Kreide war erstarrt. Sie verharrte ganz oben auf der Tafel, so dass sein Vater den Arm hoch über den Kopf strecken musste, um dorthin zu gelangen. Es sah so aus, als hätte sich das Stück Kreide dort oben festgesetzt und sein Vater hing an der Tafel wie Kojote an einem dünnen Zweig über einem Abgrund. Dann begann die Schulter seines Vaters zu zittern, und Jonas dachte sich, dass er wohl versuchte, die Kreide wieder loszubekommen, damit er weiterschreiben konnte. Aber sie löste sich nicht. Ein Hauchen ging durch den Raum, als hätten alle gleichzeitig den Mund geöffnet und Luft geholt. Endlich gelang es seinem Vater, die Kreide zu lösen. Er ging zur Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen, und verschwand. Wahrscheinlich will er eine neue Kreide holen, dachte Jonas. Das Raunen der Stimmen um ihn herum wurde immer lauter. Zwei Worte drangen zu ihm durch. “Frau” und “verschwunden”. Jonas starrte auf die beinahe vollgeschriebene Tafel. Vater hatte schreiben wollen, dass Mama tot war, aber die Kreide konnte nur die Wahrheit schreiben, deswegen hatte sie sich zur Wehr gesetzt. Jonas radierte seinen Schneemann weg. Um ihn herum packten die Leute ihre Sachen zusammen. Die Klappsitze gingen hoch, als sie den Saal verließen.
    Ein Schatten fiel auf den missglückten Schneemann, und Jonas blickte auf.
    Es war der Polizist. Der Große mit dem hässlichen Gesicht und den netten Augen.
    “Kommst du mit? Dann schauen wir mal, ob wir deinen Papa finden “, schlug er vor.
    Harry klopfte vorsichtig an die Bürotür, an der das Schild” Prof. Filip Becker” hing.
    Als er keine Antwort bekam, trat er einfach ein.
    Der Mann hinter dem Schreibtisch hob den Kopf aus den Händen: “Habe ich Herein ge … ?”
    Er verstummte, als er Harry erblickte. Und seinen Sohn, der neben dem Polizisten stand.
    “Jonas! “, rief Filip Becker in einer Mischung aus Verwirrung und Tadel. Seine Augen hatten rote Ränder. “Habe ich nicht gesagt, du sollst still sitzen bleiben?”
    “Ich habe ihn mitgenommen”, entschuldigte ihn Harry. “Ach so?” Becker sah auf die Uhr und stand auf.
    “Ihre Studenten sind schon gegangen”, erklärte Harry.
    “Sind sie das?” Becker ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
    “Ich … ich wollte ihnen nur eine Pause gönnen.” “Ich war da”, sagte Harry.
    “Sie waren da? Warum denn …

Weitere Kostenlose Bücher