Schneemann
einfach so herausgeben, hätte das katastrophale Folgen für unsere Praxis. Ich bin sicher, das verstehen Sie.”
“Wir haben zwei Mordopfer und nur eine einzige Übereinstimmung”, sagte Harry. “Beide waren in Ihrer Praxis.”
“Das kann und will ich nicht bestätigen. Aber lassen Sie uns mal annehmen, dass es so war.” Vetlesen wedelte mit der Hand durch die Luft. “Was hat das schon zu bedeuten? Norwegen ist ein Land mit wenig Einwohnern und noch weniger Ärzten. Wissen Sie, wie wenig es dazu bräuchte, dass wir uns alle irgendwann mal die Hand schütteln? Dass beide beim selben Arzt waren, ist nicht erstaunlicher, als dass sie mal in derselben Straßenbahn gesessen haben. Sie haben doch sicher auch schon mal einen Freund in der Straßenbahn getroffen?”
Harry konnte sich nicht daran erinnern. Aber er fuhr ja auch nicht so oft Straßenbahn.
“Ich habe einen ganz schön weiten Weg machen müssen, um zu erfahren, dass Sie mir nichts sagen wollen”, stellte Harry fest.
“Tut mir leid. Ich habe Sie hierher eingeladen, weil ich mir dachte, dass ich sonst aufs Präsidium kommen müsste. Und da steht jetzt ja rund um die Uhr die Presse vor der Tür und lauert auf jeden Besucher. Mit denen will ich nichts zu tun haben … “
“Sie wissen, dass ich mir eine gerichtliche Verfügung besorgen kann, die Sie Ihrer Schweigepflicht enthebt?”
“Das wäre mir recht”, nickte Vetlesen. “In dem Fall könnte man der Praxis nichts vorwerfen. Aber bis dahin … ” Er machte eine Geste mit der Hand, als schlösse er einen Reißverschluss vor seinem Mund.
Harry rutschte auf seinem Sessel herum. Er sah Idar an, dass er Bescheid wusste. Um eine gerichtliche Verfügung zu erwirken, musste er auch bei einem Mordfall glaubwürdig nachweisen, dass die Informationen des Arztes von größter Wichtigkeit für die Ermittlungen waren. Doch was sie hatten, war in etwa so aussagekräftig, wie Vetlesen gesagt hatte: eine Begegnung in einer Straßenbahn. Harry spürte einen unbändigen Drang, etwas zu tun. Zu trinken - oder Gewichte zu stemmen. Ausgiebig. Er holte tief Luft:
“Ich muss Sie trotzdem fragen, wo Sie am dritten und fünften November gegen Abend waren.”
“Damit habe ich gerechnet”, antwortete Vetlesen lächelnd. “Ich habe nachgedacht. Ich war hier gemeinsam mit … ja, da kommt sie Ja.”
Eine ältere Frau betrat den Raum. Ihre mausgrauen Haare hingen wie eine schlaffe Gardine von ihrem Kopf, als sie mit Trippelschritten ein Silbertablett mit zwei bedrohlich klirrenden Kaffeetassen brachte. Dazu hatte sie ein Gesicht aufgesetzt, als trüge sie das Kreuz und die Dornenkrone. Sie warf einen Blick auf ihren Sohn, der rasch aufsprang und ihr das Tablett aus den Händen nahm.
“Danke, Mutter.”
“Mach dir die Schuhe zu.” Sie wandte sich halb zu Harry. “Könnte mir mal jemand sagen, wer hier in meinem Hause ein und aus geht?”
“Das ist Hauptkommissar Hole, Mutter. Er will wissen, wo ich gestern und vorvorgestern Abend war.”
Harry stand auf und streckte ihr die Hand hin.
“Daran kann ich mich selbstverständlich erinnern”, verkündete sie, sah Harry resigniert an und reichte ihm eine knochige, von Leberflecken übersäte Hand. “Gestern haben wir uns doch die Fernsehdiskussion angesehen, bei der dein Curlingfreund mit dabei war. Mir hat gar nicht gefallen, was er über das Königshaus gesagt hat. Wie hieß der noch mal?”
“Arve Stopp”, seufzte Idar.
Die alte Dame beugte sich zu Harry vor. “Er hat gesagt, wir sollten das Königshaus abschaffen. Stellen Sie sich das mal vor. Wo wären wir denn, wenn wir im Krieg nicht unseren König gehabt hätten?”
“Genau da, wo wir jetzt sind”, erwiderte Idar. “Es gibt kaum einen König, der im Krieg weniger getan hat als unserer. Und er
hat auch gesagt, die breite Unterstützung für die Monarchie sei der endgültige Beweis dafür, dass die meisten von uns wirklich noch an Trolle und Elfen glauben.”
“Ist das nicht schrecklich?”
“Mal ehrlich, Mutter”, lächelte Idar, legte ihr die Hand auf die Schulter und warf dabei einen Blick auf seine Uhr, eine Breitling, die an seinem schmalen Handgelenk recht plump aussah. “Oje! Ich muss los. Jetzt müssen wir uns mit diesem Kaffee aber beeilen.”
Harry schüttelte den Kopf und lächelte Frau Vetlesen an. “Er ist bestimmt gut, aber dann heben wir uns den fürs nächste Mal auf.” Sie seufzte schwer, murmelte etwas Unverständliches und schlurfte mit ihrem Tablett wieder nach
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