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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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hinter dem sie sich verstecken könnten.
    “Das ist wie mit den Kindern, die sich flennend das grüne Pistazieneis erbettelt haben, und wenn sie es dann endlich gekriegt haben, spucken sie es doch nur aus”, fuhr die Stimme fort. “Ein ganz schön ärgerlicher Anblick. Es wird einfach Zeit, dass die Frauen endlich mal Verantwortung übernehmen und ein bisschen Mumm zeigen!”
    Ja, dachte Eli. Es wird einfach Zeit.
    “Heute hat mich im ICA jemand angesprochen”, begann Trygve. “Ach ja?” Eli spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte.
    “Er hat gefragt, ob ich der Sohn von dir und Papa sei.”
    “So was”, erwiderte Eli leichthin, viel zu leichthin, und sie spürte, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. “Und, was hast du gesagt?”
    “Was ich gesagt habe?” Trygve sah von der Zeitung auf. “Ich
    habe natürlich ja gesagt, ist doch klar.” “Aber wer fragt denn so was?”
    ” Was ist los, Mama?”
    “Wieso?”
    “Du bist plötzlich so blass.”
    “Ach nichts, Liebling. Was war denn das für ein Mann?” Trygve wandte sich wieder der Zeitung zu. “Ich hab nicht gesagt, dass es ein Mann war, oder?”
    Eli stand auf und stellte das Radio aus, als eine Frauenstimme dem Wirtschaftsminister und Arve Stop für die Diskussion dankte. Sie starrte ins Dunkel, durch das ein paar Schneeflocken tanzten, ziellos und anscheinend unbeeinflusst von Schwerkraft oder einem eigenen Willen. Sie überließen es ganz einfach dem Zufall, wo sie landeten, um dann zu schmelzen und zu verschwinden. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches.
    Sie räusperte sich. “Was?”, fragte Trygve.
    “Ach nichts”, wehrte sie ab. “Ich glaube, ich kriege eine Erkältung.”
     
    Harry lief scheinbar ziellos und ohne eigenen Willen durch die Straßen der Stadt. Erst als er vor dem Hotel Leon stand, begriff er, dass er die ganze Zeit auf dem Weg hierher gewesen war. In den Straßen ringsum hatten Huren und Dealer bereits Stellung bezogen. Für sie war jetzt Rushhour. Wer Sex oder Dope kaufen wollte, liebte diese Stunde vor Mitternacht.
    Als Harry an die Rezeption trat, entnahm er Borre Hansens entsetztem Gesicht, dass dieser ihn wiedererkannte.
    “He, wir hatten doch eine Abmachung!”, piepste der Hotelbesitzer mit seinem schwedischen Akzent und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    Harry fragte sich, warum Menschen, die auf Kosten anderer Menschen lebten, immer diesen dünnen, glänzenden Schweißfilm auf der Haut hatten, wie ein Firnis aus geheuchelter Scham über ihrem fehlenden Gewissen.
    “Geben Sie mir den Schlüssel für das Zimmer des Doktors”, verlangte Harry. “Er kommt heute Abend nicht.”
    Die Wände waren an drei Seiten des Zimmers mit einer Tapete aus den Siebzigern mit psychedelischen braun-orangen Mustern tapeziert, während die Wand zum Bad schwarz gestrichen war. Sie hatte graue Risse und Flecken, da an verschiedenen Stellen der Putz abgeblättert war. Das Doppelbett hing in der Mitte durch. Der Teppichboden war steinhart. Wasser-und spermaabweisend, dachte Harry. Er nahm ein zerschlissenes Handtuch von dem Stuhl am Fußende des Bettes und setzte sich. Lauschte dem erwartungsvollen Murmeln der Stadt und spürte, dass auch die Hunde wieder da waren. Sie knurrten und bellten, zerrten an ihren Ketten und riefen: Nur ein Drink, nur ein Tropfen, dann lassen wir dich in Ruhe und legen uns wieder hin. Harry wollte nicht lachen, tat es aber trotzdem. Dämonen müssen beschworen werden und Schmerzen betäubt. Er zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch sich zur Reispapierlampe empor kringelte.
    Mit welchen Dämonen hatte Idar Vetlesen gerungen? Hatte er sie mit hier hergenommen, um an diesem Ort mit ihnen zu kämpfen, oder war dies hier seine Zuflucht, seine Freistätte? Manche Antworten kannten sie vermutlich schon, sicher aber nicht alle. Man konnte nicht alle kennen. Wie die Antwort auf die Frage, ob Wahnsinn und Bösartigkeit zwei verschiedene Dinge sind oder ob es bloß unserer Definition zu verdanken ist, dass wir alles, was jenseits unseres Verständnisses von Zerstörung liegt, als verrückt abtun. Wir können verstehen, dass jemand eine Atombombe über einer Stadt voll unschuldiger Zivilisten abwerfen kann, nicht aber, dass andere Menschen Prostituierte aufschlitzen, um zu verhindern, dass sich Krankheiten und moralischer Verfall in den Slums von London verbreiten. Deshalb nennen wir das erste Realismus und das zweite Wahnsinn.
    Oh Gott, er brauchte diesen Drink so dringend. Nur einen, um dem

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