Schneenockerleklat
Festnetzanschluss
eingegangen war. Und ein Handy hatte sie, für die die Erfindung des
Dampfkochtopfes die letzte noch nachvollziehbare technische Neuerung gewesen
war und der Anrufbeantworter ein Wunder, an das zu glauben sie aus praktischen
Gründen kein Problem hatte, nicht. Dieses Teufelszeug war für Anita nie infrage
gekommen.
Gesetzt den Fall, dass der erwartete und, angesichts der
stark fortgeschrittenen Stunde, langsam, aber sicher überfällige Anruf
tatsächlich hier, bei den Bachlers, einging, dann war das Palinskis Überzeugung
nach ein deutlicher Hinweis darauf, dass zumindest einer der Entführer über
detaillierte Kenntnisse der Familie des Opfers verfügte. Das schränkte den
Kreis der potenziellen Täter gewaltig ein.
Eine weitere Ungereimtheit machte ihm zu schaffen. Trotz
seiner reichlichen theoretischen und teilweise auch praktischen Erfahrungen mit
dem Verbrechen hatte er, außer vielleicht bei Bagatellgesetzesverletzungen,
also solchen, die den Begriff Verbrechen im juristischen Sinne gar nicht
rechtfertigten, noch nie von einer derart präzisen Lösegeldforderung gehört.
116.812 Euro hatte die ursprüngliche, erst
nachher auf die nächsten ganzen 10.000 gerundete Forderung gelautet.
Das erweckte den Eindruck, als ob der oder die Verbrecher
ganz konkrete Beträge, vielleicht Schulden, fällige Zahlungen oder die Kosten
notwendiger Anschaffungen addiert und damit die Mindesthöhe der Forderung
ermittelt hätten.
Die vergleichsweise geringe Höhe der Gesamtforderung ließ
wieder den Schluss zu, dass der oder die Erpresser keine Profis, sondern
relativ bescheidene Amateure waren, die nicht unbedingt aus krimineller Energie
handelten, sondern unter dem Eindruck eines ganz bestimmten Ereignisses, einer
unerwarteten, andernfalls nicht oder nicht fristgerecht leistbaren Zahlung
keinen anderen Ausweg gesehen hatten.
Auf die Schnelle war Palinski, der durch sein Institut für
Krimiliteranalogie über eine der größten Datenbanken überhaupt verfügte, die
reale Verbrechen mit der einschlägigen Literatur verglichen und umgekehrt, kein
vergleichbarer Fall bekannt.
Nein, ganz stimmte das auch nicht. Ihm fiel das Drehbuch
eines finnischen Autors ein, dessen Namen er nicht einmal hätte aussprechen
können, wenn er sich daran erinnert hätte. Korrekterweise war es die
deutschsprachige Fassung dieses Drehbuches, in dem ein Teenager seine eigene
Entführung inszeniert und seine Freilassung gegen eine Zahlung von 12.420 Mark
erpresst hatte, um für sich und seine Freunde im Wald ein Baumhaus mit allem
drinnen, was man sich in diesem Alter nur vorstellen konnte, bauen zu können.
Detaillierte Aufzeichnungen des jungen Mannes, die in seinem Zimmer versteckt
aufgefunden worden waren, hatten schließlich zur unnötigerweise schrecklich
blutigen Lösung des Falles geführt.
Nun war Albert Abbersyn 38 Jahre alt und damit sicher kein
Teenager mehr, stand aber unter der Fuchtel Tante Anitas.
Er wohnte noch immer mit ihr im gemeinsamen Haushalt, also
normalerweise, im Moment natürlich nicht, er war ja nicht da. Beruflich war er
Prokurist in dem Unternehmen, das nach dem Tod seines Vaters immerhin zu 30
Prozent ihm gehörte. Ein Fachhandel für medizintechnische Geräte und Apparate. Das
klang gut und wäre es auch gewesen, hätte die Mehrheitseigentümerin nicht Anita
Abbersyn geheißen.
Eigentlich war Cousin Albert eine arme Sau, räumte Palinski
in einem Anflug von Mitleid ein, aber trotzdem, gewisse Dinge tat man einfach
nicht.
Er neigte sich zu Wilma und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Frag du, ich bekomme ohnehin keine Antwort, oder bestenfalls eine dumme«, bat
er sie.
Sie nickte und wollte eben etwas sagen, als das Telefon sein
befreiendes Klingeln vernehmen ließ. Endlich.
Und nun entwickelte sich alles anders, als man vorher
besprochen hatte. Alle waren sich einig gewesen, dass es besser wäre, wenn
nicht die ohnehin schon bis an die Grenzen des Möglichen belastete Mutter des
Opfers mit dem Anrufer sprach, sondern jemand, dessen Contenance sich in
kritischen Fällen schon bewährt hatte.
Mit der Wahl Dr. Dr. Wilfried Bachlers, ehemals Professor und
Dekan der juridischen Fakultät der Universität Wien und Hausherr, waren alle
Anwesenden einverstanden gewesen.
Oder doch nur fast alle, wie sich jetzt zeigte.
Offenbar hatte das lang erwartete Schrillen der
Telefonklingel bei Tante Anita eine manische Phase ausgelöst. Sie stürzte sich
mit
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