Schneenockerleklat
dieser archaischen Urkraft, dieser
matriarchalischen Dominanz, die plötzlich von der Frau ausging, die seit mehr
als 26 Jahren nicht seine Schwiegermutter war. Die er aber dessen ungeachtet
mit den Jahren immer mehr schätzen gelernt hatte und seit heute, seit genau
diesem Augenblick wahrscheinlich, sogar liebte.
Nun, vielleicht war Lieben ein zu großes Wort, aber es ging
jedenfalls in diese Richtung.
Also drückte Palinski die nur aus Haut und Knochen bestehende
Anita so fest wie notwendig und so sanft wie möglich auf die Liege, während
Wilmas Mutter ihr Schuhe und die warmen Wintersocken auszog. Dabei spielte sie
mit den beiden Federn wie ein Messerheld mit zwei Dolchen. Und das mit durchaus
vergleichbarem Erfolg. Denn Tante Anita schwante bereits Schlimmes, was sie
veranlasste, rein prophylaktisch wieder zu kreischen.
»Du hast jetzt genau zehn Sekunden, mir das verdammte
Losungswort zu nennen!«, drohte Elisabeth Bachler, und es klang ganz so, als ob
sie es ernst meinte.
»Niemals«, kreischte Anita, »eher sterbe ich!«
»Das ist keine Sache auf Leben und Tod, sondern eine, ob wir
dein skandalöses Verhalten als Mutter in den Medien zur Diskussion stellen oder
nicht. Was meinst du, was deine Nachbarn und Freunde von dir halten werden,
wenn ein Foto von Alberts Leiche in allen Zeitungen erscheint. Und dazu der
Text: ›Mutter lässt aus Geldgier ihren Sohn sterben‹ oder so was in der Art.
Anspucken werden sie dich, und das wird noch die freundlichste Reaktion sein!«
Verdammt, die Frau war gut, Palinski hing an Elisabeth
Bachlers Lippen, bewunderte sie für die kaltblütige Brutalität, mit der sie
ihre Schwester einschüchterte. Gesellschaftliche Ausgrenzung war zweifellos
etwas, vor dem Alberts Mutter Angst hatte. Möglicherweise sogar mehr Angst als
vor körperlicher Gewalt.
Wilmas Mutter wollte anscheinend auf Nummer sicher gehen.
»… sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Null!«, zählte sie
die Sekunden herunter. Jetzt warf sie der Schwester einen bösen Blick zu. »Du
willst es offenbar nicht anders. Nun, dann wollen wir beginnen!«
Sie wies Palinski an, Anita so zu halten, dass sie nicht
weglaufen oder sich auch nur wegdrehen konnte. Dann setzte sich Elisabeth ans
Ende der Bettbank, nahm den linken Fuß ihrer Schwester fest in die linke Hand
und ließ eine der beiden Federn spielerisch über die nackte Sohle gleiten.
Allein die Geste hatte genügt, um aus Anita ein schreiendes,
zuckendes, vor allem aber hysterisch kicherndes Etwas zu machen, das verzweifelt
flehte: »Nicht kitzeln, alles, aber nur nicht kitzeln! B i t t e!«
»Jetzt haben wir sie gleich so weit!«, flüsterte Wilmas
Mutter Wilmas Mann zu. Und: »Du machst das sehr gut, mit dieser Nummer sollten
wir auftreten!« Und dazu lachte diese erstaunliche Frau doch tatsächlich. Nicht
laut und hysterisch wie ihr Opfer, sondern leise und vergnügt. Dann fuhr sie
Anita nochmals kaum spürbar über die nackte Sohle, was wiederum ein
hysterisches Geflenngekicher zur Folge hatte.
»Albert, Albert!«, jammerte Anita zwischen den
Kicherschüben, die ihren Körper überrollten. Und erneut: »Albert. A l b e r t!«
»Was ist mit Albert?«, wollte Elisabeth Bachler wissen. »Der
Arme kann dich nicht hören, wir wissen auch nicht, wo er ist. Also sag mir
jetzt endlich, wie das Losungswort lautet!« Dabei deutete sie, rein
prophylaktisch, eine Berührung der Sohle mit der Feder an, ohne eine solche
tatsächlich auch auszuführen.
Aber die Geste reichte völlig aus.
»Ich rufe nicht, hihiiii, haha nach Albert, hahaha!«,
prustete Anita neuerlich los, und der Trenzerling rann ihr schon recht üppig
aus den Mundwinkeln. »Albert ist, hihihi, das Losungswort!«
Fünf Minuten später waren Palinski und Malatschew, der seinen
Kastanienreis brav aufgegessen und nach Angaben des Taxlers auch sonst nichts
angestellt hatte, schon wieder unterwegs zum Innenministerium und weitere
20 Minuten danach zum Semmering. Und das ganz ohne Erika Fuschée.
Denn der Frau Minister war doch noch etwas
dazwischengekommen, was sie am Ausflug zum Semmering hinderte. Auch recht,
dachte Palinski. Ihm konnte es egal sein.
Die wahrscheinliche Ankunftszeit war 15.40 Uhr, das war
später als erhofft, aber früher als befürchtet.
*
Der derzeitige und voraussichtlich letzte
Entführer Alberts hatte nach wie vor keinen geeigneten Platz gefunden, um das
fast ständig sedierte Opfer unter zumutbaren
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