Schneerose (German Edition)
misstrauisch und zurückhaltend.
Als sie in Siorapuluk ankamen, hatte Mary eigentlich damit gerechnet wie
gewöhnlich auch dort mehr Menschen als Vampire anzutreffen, doch hier verhält
es sich anders. Aus allen Himmelsrichtungen folgen die Vampire dem Ruf ihres
Urvaters Kain. Die Siedlung ist überfüllt und die letzten Menschen, die hier
noch zurückgeblieben sind, dienen als Tankstellen für Blut. Für Marys altes Ich
wäre es das reinste Festessen gewesen, doch damit ist es vorbei.
Die
vielen kleinen roten Holzhütten des Dorfes werden jeweils von über sechs
Personen gleichzeitig bewohnt und trotzdem reicht der Platz noch lange nicht
aus. Nach und nach bauen sie Iglus am Ufer des Eismeeres. Am Strand liegen
bereits die Knochen verschiedener Tiere verstreut und eine Feuerstelle wechselt
die andere ab. Es ist nicht das Abenteuer das sich Mary gewünscht hätte und
trotzdem gibt sie sich Mühe das Beste daraus zu machen. Immerhin kann sie sich
hier ohne Schmerzen zu jeder Tageszeit bewegen. Die Sonne lässt sich
tatsächlich nicht mal für wenige Minuten
blicken. Es ist ein Wunder.
Kain
haben sie bisher jedoch noch nicht zu Gesicht bekommen. Angeblich residiert er
in der großen Höhle im Inneren des Berges, zu der ihnen bisher jeglicher
Zutritt verboten geblieben ist. Er ist eben doch nicht der liebende Vater, der
jedes seiner Kinder zur Begrüßung persönlich in die Arme schließt.
Mit
leichten Schritten schlendert Mary an den Holzhütten vorbei, während ihr der Geruch
von Fisch in die Nase weht und ihre Locken sanft umspielt. Munteres Treiben
belebt die sonst so einsame Siedlung und von überall her dringen
Gesprächsfetzen an ihr Ohr. Die Sonne spiegelt sich auf den schwarzen Gläsern
ihrer Brille und bringt sie zum blinzeln. Plötzlich lässt sie ein leises, aber
aufgebrachtes Kreischen aufhorchen. Es muss aus einem der Häuser kommen.
Angespannt lauscht sie und versucht die ganzen anderen Geräusche auszublenden.
Ein ihr wohl bekanntes, aber gleichermaßen verhasstes Lachen ertönt. Es trieft
nur so vor Selbstgefälligkeit, ihm folgt ein dünnes Wimmern. Zögernd setzt Mary
einen Schritt vor den anderen und folgt der so sanft klingenden Stimme, die
jedoch nichts als Bosheit hervorbringt. Das jammernde Flehen wird nun lauter. Auch
wenn sie die fremden Worte nicht versteht, so hört sie doch deutlich die Angst
heraus.
Die
Tür zu einem der Häuser ist nur angelehnt. Ein Blick ins Innere, verschlägt ihr
den Atem und lässt sie erstarren. Fünf Männer, unter ihnen Victor, bedrängen
eine junge Inuit. Ihr Hals ist bereits blutbefleckt, während Tränen über ihr
Gesicht rinnen. Ihre Kleidung hängt in Fetzen von ihrem Körper und an ihrer
nackten Brust sind Bissspuren zu sehen. Einer der Männer stößt sie wie ein
Stück Dreck gerade von sich, während er sich die Hose zumacht. Ein kalter
Schauer läuft über Marys Körper. Sie fühlt sich in eine andere Zeit und in ein
anderes Leben versetzt. Damals war sie diese Frau. Zugegeben sie war viel
jünger, aber es ändert nichts an dem Schmerz. Gemeinsam mit Claudia und Orlando
hatte sie es jedem Einzelnen von ihnen heimgezahlt. Sie hatte für Gerechtigkeit
gesorgt und doch war die Qual nicht weniger geworden. Auch die Zeit hat ihre
Wunden nicht geheilt, sie hat nur gelernt damit zu leben. Wie ein Narbengeflecht
zieht sich die Erinnerung noch heute über ihre Seele.
Die
Frau ist nur noch ein Häufchen Elend und trotzdem haben die Männer noch nicht
genug. Der Nächste tritt bereits vor, um sie sich zu nehmen. Mittlerweile wehrt
sie sich nicht einmal mehr, sondern schluchzt nur noch leise vor sich hin. Ihre
Tränen interessieren die Vampire nicht.
Mit
einem lauten Knallen kracht die Eingangstür gegen die Wand und Mary tritt in
die Stube. Erschrocken fahren die Männer herum, doch als sie sehen, dass es nur
Mary ist, die sie stört, haben sich nichts weiter als ein belustigtes Grinsen
für sie übrig.
„Schämt
ihr euch nicht?!“, stößt Mary mit zittriger Stimme hervor, reckt jedoch
selbstbewusst ihnen ihr Kinn entgegen.
Victor
zuckt desinteressiert mit den Schultern. „Wofür?“
„Diese
Menschen teilen ihre Häuser und ihr Essen mit uns und das ist euer Dank dafür?
Schlimm genug, dass ihr ihnen ihr Blut nehmt, müsst ihr ihnen dann auch noch
jegliche Würde nehmen?“
„Es
sind doch nur Menschen.“, entgegnet der Mann, der zuletzt von der Frau
abgelassen hat, unbeeindruckt. Es wirkt tatsächlich so als wäre er sich keiner
Schuld bewusst.
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