Schneerose (German Edition)
Das Traurige ist, dass er es wahrscheinlich auch noch erst
meint. Zulange ist er schon Vampir und hat jegliche Menschlichkeit verloren.
„Ihr
seid Vampire, ihr müsst niemanden...“, sie betrachtet die Frau voller Mitleid,
„SO ETWAS antun. Ein charmantes Wort von euch würde genügen, um sie zu Wachs in
euren Händen zu machen.“
„Wo
bliebe denn dann der Spaß?“, grinst ihr nun ein anderer Vampir entgegen und
wischt sich über seinen blutverschmierten Mund. Mary läuft es kalt den Rücken
hinunter.
Durch
die Ablenkung scheinen die letzten Lebensgeister in der Frau wieder lebendig zu
werden, sodass sie plötzlich auf die Beine kommt und stolpernd aus der Hütte
stürzt. Sie hinterlässt eine Blutspur. Alarmiert wollen ihr die Männer bereits
hinter her stürzen, doch Victor bringt sie mit einer schlichten Handbewegung
zum stehen.
„Keine
Eile, sie kann nirgendwohin.“
„Aber
sie wird es weiter erzählen!“
„Und
wenn schon, wenn sich einer beklagt, setzt er sich damit direkt auf unsere
Speisekarte.“, erwidert Victor selbstgefällig und stolziert als Oberhaupt in
Richtung Ausgang. Bei Mary bleibt er jedoch stehen und betrachtet sie von oben
herab.
„Ich
verspreche dir, wenn ich die Frau das nächste Mal sehe, werde ich sie von ihren
Schmerzen erlösen.“
Seine
Worte klingen lieblich, doch Mary kennt ihre wahre Bedeutung. Er wird die Frau
töten. Eiskalt und ohne jegliches Mitgefühl.
Schwach
auf den Beinen tritt Mary an die brennenden Tonnen am Meeresufer. Um sie herum
haben sich einige Vampire versammelt, unter ihnen auch Nanuk und Orlando. Er
wirkt gedankenverloren, während er an einem weißen Stück Stein oder Holz mit
einem Messer schnitzt. Nicht einmal bemerkt hat er sie, doch Nanuk winkt sie
freundlich heran. Seine braunen Hände sind rau und von Schwielen überseht,
ungewöhnlich für einen Vampir, doch es macht ihn für Mary sympathisch. Er trägt
eine rote Robe mit schwarzem Muster und passenden schwarzen Stiefeln. Neben
sich liegt ein Bündel aus verschieden Kräutern.
„Du
wirkst verängstigt. Bist du einem bösen Geist begegnet?“, fragt er lächelnd,
wobei sein dunkler Schnauzbart bei jedem Wort fröhlich mitwippt. Mary seufzt.
„Ich wünschte es wären Geister gewesen, die könnten einem wenigstens kein Leid
antun.“
Plötzlich
wird Nanuk ernst. „Täusch dich da mal nicht, mein Kind. Egal ob tot oder
lebendig, das Böse bahnt sich überall seinen Weg.“
Mit
einem Band bindet er die Kräuter zu einem Strauß zusammen. „Wir können nichts
weiter tun als dem Bösen immer und immer wieder die Stirn zu bieten und um den
Schutz der Götter beten.“
Erstaunt
mustert Mary ihn. Sie hat noch nie einen gläubigen Vampir getroffen. Allein die
Existenz der Vampire widerspricht jedem Glauben. Tote sollten nicht über die
Erde wandeln. „An welche Götter glaubst du denn?“
„Ich
bin ein Schamane der Dolgane und glaube an die Götter des Feuers, des Wassers
und des Lebens. Solange wir sind, erfüllen sie einen jeden von uns.“
„Wir
sind aber tot“, entgegnet Mary entrüstet.
Nanuk
lacht. „Also ich für meinen Teil fühle mich alles andere als tot.“ Schelmisch
zwinkert er ihr zu. „Komm und hilf mir die bösen Geister zu vertreiben. Sie
verstecken sich gerne unter Felsen, dort wo die Wärme des Feuers sie nicht
erreicht.“
Gemeinsam
halten sie das Bündel aus Kräutern in die Flammen. Nanuk flüstert einen Spruch
in einer fremden Sprache vor sich hin und schwenkt danach den Strauß durch die
Luft wie eine Fahne. Die umstehenden Menschen und Vampire senken die Köpfe und
falten ihre Hände. Sie beten. Es sind alles einheimische Vampire und doch
erfüllt ihr Verhalten Mary mit Hoffnung. Vielleicht ist dort draußen ja
wirklich jemand, der ihre Gebete erhört. Vielleicht gibt es dort etwas, das
größer ist als sie. Vielleicht hilft alleine der Gedanke daran.
Sie
macht es den anderen nach, senkt den Kopf und faltet ihre Hände. Das Ritual
dient dazu böse Geister zu vertreiben, doch Mary betet nicht um Schutz vor
bösen Geistern, sondern für ein Ende der Vampire. Victor hat ihr wieder
bewiesen, dass viele von ihnen, nichts weiter als Monster sind, die es nicht
geben sollte. Sie betet dafür, dass diesem Bösen Einhalt geboten wird. Sie
bittet die Geister aber auch um Glück für Orlando. Sie bittet um ein eigenes
Leben. Sie bittet um ein Leben im Licht und nicht länger Finsternis.
Wie
erfüllt von ihren Träumen und Wünschen hebt sie den Kopf und blickt in
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