Schneerose (German Edition)
bei ihnen einbrechen
würde. Er hält es jedoch für unwahrscheinlich, dass jemand bei ihnen einbricht,
da ihr Anwesen im Vergleich zu den anderen Gebäuden in der Nachbarschaft gerade
zu ärmlich wirkt und es im Inneren nicht mal etwas Wertvolles zu holen gibt.
Ihr Vater legt keinen Wert auf die Inneneinrichtung, weil er sowieso so gut wie
nie da ist. Das ganze Gebäude ist im spartanisch-modernen Stil gehalten.
Aber vorrausgesetzt sie war gestern Nacht hier, ist die Kamera nun
vielleicht endlich doch mal zu etwas nutze.
Eilig läuft Lia in den Keller, in dem sich in einem kleinen Raum, nicht
größer als eine Abstellkammer, das Aufzeichnungsgerät mit einem kleinen Monitor
befindet. Gerade ist der stille und verlassene Hof zu sehen. Lediglich die
Blätter der Bäume wiegen sich sachte im Wind und lassen hier und da Schnee zur
Erde fallen.
Als Lia mit zittrigen Fingern den Rückspulknopf betätigt, schlägt ihr
Herz wild gegen ihre Brust, so feste, dass sie fürchtet ihre Rippen könnten
davon brechen. Plötzlich keucht sie erschrocken auf als sie zwei Personen in
wildem Gerangel über das Bild vom Hof huschen sieht. Schnell drückt sie die
Pausetaste. Nach einem kurzen Ein- und Ausatmen betätigt sie die Play- Taste
erneut. Die ersten Sekunden ist nur ein leerer Hof zu sehen, doch dann kommt
plötzlich eine Frau, nur mit einer Jeans bekleidet, in Panik aus dem Haus
gestürzt. Da die Kamera sich über der Eingangstür befindet, kann Lia sie nur
von hinten sehen. Die Frau rennt mit einer Geschwindigkeit, sodass Lia alleine
vom Hinsehen die Augen brennen. Sekunden später kommt plötzlich ein Mann aus
der Luft ins Bild gesprungen. Wie ein Greifvogel stürzt er sich auf die Frau,
die nun in lautem Geschrei zur Kamera gewendet ist. Es ist Lia. Ungläubig
starrt sie auf den Bildschirm und fährt sich über ihre Brust, die auf der
Kamera so offen für alle Welt zu sehen ist. Sie braucht das Gesicht des Mannes
nicht zu sehen, um zu wissen, wer er ist. Mit Händen und Füßen wehrt die Lia
auf dem Bildschirm sich gegen Orlando, doch dieser schmeißt sie sich einfach
über die Schulter und hebt dann mit einem einzelnen Sprung vom Boden ab, sodass
er aus der Bildfläche wieder verschwindet. Auch wenn sie nicht sagen kann, was
genau Orlando ist, so ist sie sich nun sicher, dass er jedenfalls kein
gewöhnlicher Mensch ist. Aber was sie viel mehr erschüttert ist, wie er auf dem
Band mit ihr umgegangen ist. Sie wollte vor ihm flüchten, hatte Angst und hat
geschrieen, während sie wild um sich geschlagen hat. Doch Orlando hat sie
einfach gegen ihren Willen gepackt und zurück ins Haus gezerrt. Was ist dann
passiert?
Als sie über ihre Arme streicht, glaubt sie plötzlich seinen festen Griff
zu spüren. Dort waren seine Hände. Sie haben miteinander gekämpft. Aber warum?
Wo ist er jetzt? Hat er sie einfach liegen gelassen und ist gegangen?
Es gibt nur einen Menschen, der ihr im Moment helfen kann: Tru. Sie hatte
sie bereits vor Orlando gewarnt und nun versteht Lia auch warum. Doch sie muss
wissen, was es damit auf sich hat. Wer ist Orlando wirklich und woher kennt Tru
ihn? Sind ihre vielen Narben womöglich von ihm verursacht? Ist sie ihm auch zum
Opfer gefallen? Wie komisch sich das Wort “Opfer” anfühlt, denn auch wenn ihr
ganz Körper schmerzt, fühlt sie sich, wenn sie an Orlando denkt nicht schlecht.
Sie hat auf dem Monitor gesehen, was er gemacht hat, aber sie kann nicht
glauben, dass es dafür keine logische Erklärung geben kann. Vielleicht nicht
für seine übersinnlichen Kräfte, aber dann zu mindestens dafür, warum er sie so
brutal behandelt hat. Er hat gesagt, dass er sie mag, das hätte er nicht tun
müssen, wenn es ihm nur um das Eine gegangen wäre. Lia kennt sich zu gut um zu
wissen, dass, wenn sie in einer ihrer gewissen Phasen ist, es eigentlich kein
Problem ist von ihr zu bekommen, was man sich als Mann nur wünschen kann.
Orlando war ihr gegenüber immer zuvorkommend und verständnisvoll. Sie hatte
sich sicher bei ihm gefühlt.
Verlegen wischt Lia über die Innenfläche ihrer Hand. Ist sie hier
richtig? Trus Schrift ist ganz verschmiert und kaum noch zu erkennen. Ist das
eine 57 oder doch eher eine 61? Die Häuser in der Wykeham Street sehen alle
gleich aus. Triste Backsteinfassaden mit einheitlichen, winzigen Vorgärten, in
denen sich Müll und Schrott stapeln. Aus dem Fenster von dem Haus gegenüber
beäugt sie bereits argwöhnisch eine ältere Dame mit Lockenwicklern im grauen
Haar. Lia
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