Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Puls ist gleichmäßig.
Auch was Kristinas Aussage angeht, hat er wieder den Überblick. Ihr Geständnis hätte er ihr abgenommen. Was sollte denn auch noch kommen, nach einem Geständnis? Nein, es war ihre Vehemenz gewesen. Das verzweifelte Betonen ihrer Schuld. Erst das hatte ihn darauf gebracht, dass ihre Aussage, ihre Rekapitulation des Abends so erstaunlich lückenlos war. Als hätte sie jemand auf die Aussage vorbereitet. Das und die vehemente Selbstbeschuldigung ließen sich am ehesten dadurch erklären, dass jemand sie unter Druck gesetzt hatte, dass sie jemanden deckte. Er würde ihr also morgen die Angst nehmen müssen. Das war ein klar definiertes Ziel. Damit stand das weitere Vorgehen fest. Er war zufrieden.
Es wird schon dunkel. Blaue Stunde. Blau auch die Tachoanzeige seines BMW. Das Leben kann so einfach sein. So stimmig. Blau. Ein Mann fährt von der Arbeit nach Hause. Ein Mann erkennt das Erreichte an. Der Mann leitet das Kommissariat von Fleurville. Der Mann hat ein regelmäßiges Einkommen. Der Mann weiß, dass er eine Frau hat und einKind. Der Mann denkt an seine Frau. Ohne Umschweife. Ohne Störung. Die Tachoanzeige ist immer noch blau.
Und eben in dieser Stimmung, auf dieser Fahrt zurück, wird Kommissar Roland Colbert beschenkt. Jedenfalls kommt es ihm so vor, als hätte er sich aus einer großen Verstrickung befreit.
Das Einzige, was wirklich zählt! Damit meint er nicht nur Sina und Juliet. Damit meint er auch sich selbst. Roland Colbert weiß, dass Juliet sich ein Kind wünscht. Ein paar Mal hat sie schon Andeutungen gemacht. Warum hat er nicht einfach und ganz deutlich Ja gesagt? Er will es, sie will es offenbar auch. Warum haben sie sich nie die Zeit genommen, das mal auszusprechen? Stattdessen haben sie die Küche renoviert. Was für ein Umweg! Nein! Heute Abend wird das besprochen!
21 Grad. Roland Colbert greift ans Armaturenbrett. Für seinen Geschmack ist es etwas zu warm im Auto. Er dreht an einem Regler, und die blaue Digitalanzeige zeigt ihm, was er tut. Auch dass passt zu seinem guten Gefühl.
Sergeant Ohayon ist so durchgefroren, dass sich sein Mund längst wie zur Bitterkeit verzogen hat. Seit zwanzig Minuten steht er hier, wie vor einem Grab. Greniers Absperrbänder sind zerrissen und flattern im Wind.
Fast eine Woche ist es her, dass sie hier gestanden haben. Viele Bilder sind zurückgekommen. Erst hatte er alleine hier gestanden, dann war Conrey gekommen, dann Grenier. Zuletzt der Kommissar und die Männer von der Spurensicherung. Ohayon ärgert sich. Diese Erinnerungen sind vollkommen überflüssig. Ein einziges Bild hat Kraft. Der Moment, als Genevièves Gesicht allmählich verschwunden war, unter dem Schnee. Das zu erwartende Gefühl stellt sich auch kurz ein. Eine Mischung aus Mitleid und Entschlossenheit. Entschlossenheit, den zu finden, der sie totgeschlagen hat. Aber das Gefühl ist nichts Neues, es war schon damals da. Was hat er denn gehofft?
Eine erneute Aufladung durch Mitleid und Wut? So einfach ist das nicht, und schon gar nicht so folgerichtig. Also bleibt er stehen und betrachtet die Schneefläche, die ihm vermutlich nicht viel zu berichten hat. Nichts. Lange Zeit. Außer einer Kälte, die schon nicht mehr unangenehm ist. Sie frisst sich Zentimeter für Zentimeter in ihn hinein.
Es gibt Dinge, die nicht mehr entschieden oder bewertet werden müssen. Einfach, weil sie per Gesetz und Verfügung längst geregelt sind. Manche dieser Verfügungen sind zweihundert Jahre alt. Wenn solche Festlegungen bis heute noch in Kraft sind, ist das ein Hinweis darauf, dass sie sich bewährt haben. So ist es also nicht nötig, neu zu bewerten, was da im Schnee passiert.
Was Ohayon hier macht, ist falsch!
Auf dem Kommissariat wird die wichtigste Zeugin vernommen, und Ohayon weiß genau, dass Roland in ihrem Fall nicht so neutral ist wie sonst. Da würde er gebraucht! Nein, dass er hier steht, ist nicht genial! Dahinter steckt ein Maß an Verbohrtheit, das durch nichts zu entschuldigen ist. Entfesselt in seiner Trägheit. Falsch ist das. Es hat einen Grund, dass bei schweren Gewaltverbrechen ein Team eingesetzt wird. Der geniale Instinktmensch, der drollige Einzelgänger, das sind Anachronismen, die viel Schaden angerichtet haben. Deshalb wurden sie per Gesetz und Erlass eliminiert. Die einzige Entschuldigung, die Ohayon ein wenig entlasten könnte, ist der Umstand, dass sein Verhalten offenbar seit Langem geduldet wird. Gut. Ein Vorgesetzter darf bestimmte Dinge dulden,
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