Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Mann, gibt ihm auch das Foto, das sie und Sina aus einer Modezeitschrift ausgeschnitten haben. Der Friseur findet das Foto großartig und schlägt vor, erst mal die Haare zu waschen.
Juliet beobachtet das alles und fragt sich, warum es oft so schwierig ist, Sina zu verstehen. Lügt sie mich an? Sind das Notlügen? Wem sollen sie nützen? Nach einer Weile meint sie herausgefunden zu haben, dass Sinas Hang, die Unwahrheit zu sagen, doch schon ziemlich Methode hat. Ich mag es nicht, belogen zu werden! Ein Gedanke, den Juliet gleich zu einer kleinen Szene ausbaut. Sie stellt sich ein Verhörzimmer vor. Auf der einen Seite sie selbst, auf der anderen Seite Sina.
Der Gedanke verschwindet. Juliet hat einen spontanen Entschluss gefasst und setzt ihn sofort in die Tat um.
»Uns war total kalt. Also haben wir uns gegenseitig gewärmt. Und dann … Auf einmal war Streit. Geneviève wollte zurückzu den Jungs, und ich wollte aber nicht … Weil ich Angst hatte. Ich habe sie festgehalten, aber Geneviève hat sich von mir weggerissen und ist gegen einen … gegen so einen Holzpfeiler geknallt … Ja, und dann ist was Großes runtergefallen. Von oben. Und auf ihren Kopf.«
»Was war das?«
»Weiß ich nicht. Sie hat ›Au!‹ geschrien und ist dann weggelaufen. Richtung Wald. Ich hab ihr noch nachgerufen, dass wir besser zu mir gehen, aber sie ist weitergelaufen. Dann hörte ich wieder den im Wald.«
»Philippe?«
»Vielleicht. Er rief um Hilfe und ich dachte …«
»Wie weit war er weg?«
»Weiß ich nicht, ich dachte, das wäre ein Trick. Jetzt, wo Sie sagen, dass er erfroren ist … Aber ich dachte, das ist ein Trick, und hatte Angst. Also bin ich in die andere Richtung gelaufen. Nach Hause.«
»Den ganzen Weg? Durch den Schnee?«
»Erst war mir kalt, aber als ich anfing zu rennen, ging’s.« Sie sieht ihn an. Dann stellt sie eine merkwürdige Frage. »Sie glauben mir doch, oder?
Er antwortet sofort. »Ja, Kristina, ich glaube dir.«
Kristina schweigt, und auch Roland Colbert muss die Aussage erst mal verarbeiten. Er hat natürlich nicht damit gerechnet, den Fall so schnell abschließen zu können. Aber es ist nicht nur das. Es ist etwas zurückgekommen. Dieses solidarische Gefühl, das von Anfang an bewirkt hat, dass er auf ihrer Seite steht. Vor ihm sitzt eine junge Frau, die mutig und ehrlich ist. Ohayon hat sie belogen. Weil sie Angst hatte. Jetzt hat sie ihre Entscheidung getroffen und die Wahrheit gesagt. Was für ein Glück! Hätte sie auf ihre Mutter gehört und die Sache dem Anwalt überlassen, dann hätte der eine große Sache daraus gemacht. Am Ende wäre sie wahrscheinlich der Falschaussage überführt worden.
Roland Colbert denkt an seine Tochter. Die lügt auch manchmal. Offenbar gehört das in dem Alter dazu. Schluss damit! Das darf ihm nicht passieren! Kristina ist nicht Sina.Nur weil sie auch ein Mädchen und im gleichen Alter ist!
Er ist durcheinander. Da ist einerseits ein starker Beschützerinstinkt, andererseits die Vernunft des Kriminalisten.
Zwanzig Sekunden sind vergangen, in denen er nichts gesagt hat. Kristina reagiert merkwürdig auf diese Pause. Sie wird laut.
»Warum sagen Sie nichts? Meinen Sie, ich lüge? Ich hab alles gesagt. Genau so ist es passiert. Ich bin schuld, dass Geneviève das passiert ist. Ich habe sie getötet!«
Warum ist sie so aufgeregt? Die gefühlsmäßige Wendung ist scharf. Trotzdem reagiert Roland Colberts Körper nicht. Keine Miene, kein Zucken. Aber der Gedanke ist absolut klar. Du hast Angst. Du verbirgst etwas.
Er verstellt sich. Er ist misstrauisch. Sechzehnjährige Mädchen! Oh nein, die sollte man nicht unterschätzen! Er ist verletzt. Sie hat ihn betrogen. Vielleicht nicht mal absichtlich. Es ist nur ein Instinkt, der ihm das alles einflüstert. Weil sie eben so heftig auf sein Schweigen reagiert hat. Du schützt irgendjemanden!
Er entspannt sein Gesicht, lächelt sogar ganz unschuldig.
»Das hat nichts zu bedeuten, Kristina. Mein Schweigen. Ich musste das nur erst mal verdauen. Deine Aussage. Wir dachten nämlich die ganze Zeit, dass es die Tat eines Mannes war. Zum Beispiel Philippe.«
»Nein, ich war es! Ich habe sie getötet. Wir haben uns gestritten, sie hat sich von mir losgemacht und ist gegen einen Pfeiler gefallen. Und dann ist etwas runtergekommen. Etwas Großes. Auf ihren Kopf.«
»Ja, das habe ich verstanden. Bist du müde?«
»Ja, und … ich glaube auch, dass ich vielleicht weinen muss. Weil Geneviève … weil sie ja meine beste
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