Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
den Hang zu Zornesausbrüchen meinte. Frau Stühler hat sie angeblich mal geohrfeigt. Außerdem hat Frau Stühler mehrfach versucht, sie und ihren Mann zum Kirchgang zu überreden.«
»Halte auch die andere Wange hin. So sagt man doch, oder?«
Grenier mischt sich ein. »Hat die Nachbarin Frau Stühler wegen der Ohrfeige angezeigt?«
»Nein. Angeblich hat der Pfarrer ihr das ausgeredet.«
»Der Pfarrer?«
»Richtig.«
»Aber die Ohrfeige hat die Nachbarin seelisch-moralisch trotzdem nicht ausgehalten und redet jetzt schlecht über Frau Stühler. Und natürlich sind ihr auch der Pfarrer und seine Fürbitte unheimlich!«
Roland Colbert wird ungeduldig. »Worauf willst du raus, Grenier?«
»Das klingt alles nach altem Tratsch. Geohrfeigt! Da ist bestimmt noch mehr passiert. Oder auch nicht. Wer weiß das schon? Frau Stühler hat ihre Nachbarin vielleicht nur gefragt,ob sie gemeinsam zur Kirche gehen wollen. Was ist daran so ungewöhnlich? Wir sind hier auf dem Land! Nein. Ich wäre vorsichtig. Ich würde auf die Aussage dieser Nachbarin nicht allzu viel geben.«
Der Kommissar kann den angeblichen religiösen Eifer von Frau Stühler auch noch nicht einordnen. Für so was ist sie eigentlich eine Generation zu jung. Er zuckt mit den Schultern und fährt fort. »Kristina hält sich jedenfalls die meiste Zeit bei ihrer Mutter auf, ist aber auch manchmal bei ihrem Vater hier in Fleurville. Daher die Verwirrung mit den Wohnungen. Also, Resnais, du hängst dich ans Telefon und rufst so lange bei Frau Stühler an, bis du sie hast, und …« Roland Colbert überlegt, wie es weitergehen soll. »Die Situation ist ein bisschen vertrackt. Wir müssen dringend mit Kristina sprechen, und solange wir die nicht haben … Also, wenn jemand von euch einen Vorschlag hat.«
Grenier meldet sich zu Wort. »Was ist mit dem Mann, den ich am Waldrand gesehen habe? Was ist mit Philippe? Ich hab die Handschuhe immer noch nicht gefunden.«
»Ach so, die Handschuhe … Ja, vielleicht solltest du da weitermachen.«
»Klingt so, als ob wir die Handschuhe nicht mehr brauchen. Ich reiße mich nicht darum, in den Wald zu fahren und im Schnee rumzukrabbeln.«
Zum Erstaunen aller ergreift Ohayon das Wort. Normalerweise bestehen seine Beiträge bei ihren Besprechungen aus Antworten auf direkte Fragen oder kleinen Witzen. Jetzt hat er sein Notizbuch rausgeholt, es aufgeschlagen. »Na ja … vielleicht sind sie wichtig, die Handschuhe. Vielleicht auch nicht.«
»Was ist denn das für ein Quatsch? Vielleicht ja, vielleicht nein …«
Ohayon erklärt es Grenier. »Weil so viel passiert ist, nachdem Philippe längst tot war. Vor allem der Anruf bei der Zeitung. Wer wusste, dass es eine Leiche beim Hexenhaus gab? Wer hatte Interesse, Walter Heimann zu belasten? Dann die Sache mit dem Mann am Waldrand. Wer war das?«
Conrey hat eine Erklärung. »Könnte jeder gewesen sein. Einer von der Zeitung, jemand, der geil darauf war, sich den Tatort noch mal anzusehen … Dann kommt Grenier aus dem Wald gerannt und ruft ›Stehen bleiben! Polizei!‹ … Ich nehme an, du hast dich zu erkennen gegeben.«
»Natürlich.«
»Also, was passiert? Der Bursche am Waldrand will nicht in die Sache reingezogen werden und macht sich aus dem Staub.«
Die letzte Bemerkung von Conrey hat den Kommissar an etwas erinnert. »Das mit dem Waldweg … Als ich bei Wolfgang Pape war, dem Typen, den sie hier als König bezeichnen. Der hat mir erzählt, dass er zuerst aus Versehen diesen Waldweg reingefahren ist. Als er Thomas gesucht hat. Und da waren frische Spuren im Schnee. Spuren von einem Auto. Mittelklasse, kein großer Schlitten.«
»Und das bedeutet?«
»Dass jemand dort war, an dem Morgen, als Geneviève ermordet wurde. An derselben Stelle, an der Grenier den Mann gesehen hat. Wir können das wohl kaum als Zufall abtun. Wer kennt denn schon diesen alten … Knutschweg!«
»Das heißt, er oder sie könnte auch derjenige sein, der bei der Zeitung angerufen hat.« Alle sehen Conrey an. Der entwickelt seinen Gedanken weiter. »Wenn wir mal andersrum denken. Nur theoretisch. Wenn Kristina Geneviève erschlagen hat. Und irgendwer hat das beobachtet. Warum ruft deroder diejenige dann nicht bei der Polizei an?«
»Du meinst, jemand will Kristina schützen? Wer?«
»Na, ihre Mutter oder ihr Vater zum Beispiel.«
»Aber warum, Conrey? Warum sollten sich Kristinas Mutter oder ihr Vater da im Wald aufhalten? Zufällig? Woher wusste der- oder diejenige von Heimann?«
»Keine
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