Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
schon eine Spur? Eine Ahnung, wer Geneviève getötet hat?«
»Darüber darf ich nicht reden, solange der Fall nicht abgeschlossen ist.«
»Natürlich.«
Ohayon bringt den Lehrer bis zum Glaskasten und verabschiedet sich dort von ihm. Sobald er allein ist, geht er zu seinem Gummibaum, und der sieht, wie immer, nicht gut aus. Ohayon holt also die kleine Kanne und gießt die Pflanze. Während er das tut, versucht er, sich an etwas zu erinnern. Eben während des Verhörs war etwas gesagt worden, das wichtig war. Ihm fällt nur nicht mehr ein, was.
Als Ohayon ins Zimmer des Kommissars zurückkehrt, sind Grenier, Conrey und Resnais bereits da.
»Ich hab die Reifen gecheckt. Die haben ein anderes Profil als die von eurem Knutschweg. Neu sind sie auch nicht.«
»Danke, Grenier.«
Roland fasst die Aussage des Lehrers für die anderen noch mal zusammen. Während er spricht, übersetzt Conrey Resnais Kristinas Aufsatz. Als Conrey damit fertig ist, nickt er kurz und ergreift dann das Wort. »Hat eine ziemlich schräge Fantasie, diese Kristina. Ich meine, wie kommt man auf so was? Der Sache sollten wir nachgehen.«
Resnais gibt ihm recht, Grenier sagt nichts.
»Und warum ist das in deinen Augen eine brauchbare Spur?«
Conrey versteht die Frage des Kommissars nicht so ganz. Für ihn ist das ziemlich eindeutig.
»Na, da kommen mehrere Sachen zusammen. Erstens wird in dem Aufsatz ganz klar brutalste Gewalt geschildert, und zwar gegen junge Menschen. Zweitens … na ist ja klar!«
»Der Säbel!«, ergänzt Resnais. »So oft kommen Säbel im normalen Leben ja nicht vor!«
»Geneviève wurde aber nicht mit einem Säbel getötet.«
»Nein, aber der lag schön dramatisch neben ihr. Und genau das finde ich noch viel schlimmer, das weist nämlich in eine ganz andere Richtung, wenn du mich fragst.«
»Lass hören.«
»Es gibt doch diese Spinner, wie nennt man die …? Satanisten! Genau!«
»Oha!«
»Ja, Ohayon, Satanisten. Ich behaupte nicht, dass diese Kristina unbedingt zu so einem Klub gehört, aber mit dem Säbel wurde offenbar ein Zeichen gesetzt. So, und jetzt sieht auf einmal der ganze Fall anders aus. Was, wenn Kristina, Thomas, Max und Philippe zu so einer durchgeknallten Gruppe oder Sekte gehören? Oder nein! Wie nennen die das, wenn sie im Internet Videos zeigen, auf denen man sieht, wie einer zusammengeschlagen wird? Ist doch möglich, dassdie zu so einer Gruppe gehören. Wie nennt man das denn? Grenier!«
»Woher soll ich das wissen?«
»Happy Slapping nennt man das, glaube ich.«
Conrey ist dankbar für das moderne Fachwort. »Danke, Resnais.«
Der Kommissar geht nicht darauf ein. »Was meinst du, Ohayon?«
»Satanisten, Internetspinner … Keine Ahnung, aber … Ich finde ja nicht, dass man so was in dem Aufsatz merkt. Da steht nirgends: Jetzt bekamen sie ihre gerechte Strafe. Oder? Außerdem habe ich mit Kristina gesprochen. Mit so was hat die nichts zu tun. Nein. Aber was anderes. Dieser Lehrer, der uns den Aufsatz gebracht hat …« Ohayon überlegt. »Ich frage mich, warum er überhaupt meint, das hätte was mit unserem Fall zu tun.«
»Na, wegen dem Säbel!«
»Ja, der Säbel, der ist natürlich was Besonderes. Trotzdem finde ich es komisch, dass er zu uns damit kommt und nicht mit seiner Schülerin darüber geredet hat.«
»Ah, verstehe! Jetzt ist der Lehrer schuld. Das kennen wir ja schon aus dem Fernsehen. Da bringt ein Schüler seine halbe Klasse um, und dann sind die Lehrer schuld oder die Eltern oder die Firmen, die Videospiele herstellen.«
»Stopp, Conrey! So kommen wir nicht weiter.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass wir beide Theorien klären müssen. Deine, dass Kristina und vielleicht auch Philippe und die anderen Jungs Geneviève sozusagen hingerichtet haben, und die von Ohayon, dass der Aufsatz bedeutungslos ist.«
Endlich äußert sich Grenier. »Was glaubst du denn, Roland?«
»Ich hatte den Eindruck, dass Monsieur Agneau irgendwie merkwürdig war. Sein Gebaren, die Art, wie er da auf dem Stuhl saß, sein Bekenntnis gegen den Krieg … Sag doch mal, Ohayon.«
»Aufgeregt war er.«
»Na, kein Wunder, wenn seine Schülerinnen so was schreiben!«
»Das meinte ich nicht, Conrey. Ich meinte das Gegenteil. Es kam mir vor, als würde er sich freuen, das alles sagen zu können.«
Der Kommissar nickt. »Genau den Eindruck hatte ich auch. Er hat sich verhalten wie ein Wichtigtuer, einer, der sich einmischt, weil er meint, einen bedeutenden Beitrag leisten zu müssen. Komm,
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