Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
über Ohayon? Er ist einmal in seiner Wohnung gewesen. Sie hat ihm nicht gefallen. Wahrscheinlich finde ich ihn nur interessant, weil ich überhaupt nicht kapiere, wie er funktioniert. Er ist faul. Und trotzdem! Zwei Mal hat ihm Ohayon schon den Arsch gerettet und einen völlig verfahrenen Fall doch noch gelöst. Natürlich stecken Ohayons große Momente wie ein Stachel in ihm. Denn wenn er ehrlich ist, dann gehörten diese beiden Fälle so ziemlich zu den Schwierigsten, die sie in diesen fünfzehn Jahren hatten. Gleichzeitig geben ihm diese beiden Fälle auch ein Gefühl der Sicherheit. Er hätte es nicht sachlich begründen können, aber er weiß, dass Ohayon ihn nicht im Stich lassen würde, wenn was schieflief. Und das ist in seinem Beruf wichtiger als alles andere.
Im Moment sieht es also wieder mal so aus, als hätte Ohayon recht. Seine verworrene Begründung heute Nachmittag, dass sich Heimann und der Täter vielleicht kennen. Dass Heimann nur deshalb dichthielt, weil der andere etwas über ihn wusste. Und wenn Heimann Selbstmord begangen hat? Sie haben keinen Abschiedsbrief gefunden. Wenn Heimann sich umgebracht hat, weil er es nicht mehr aushielt, dass er wieder zu Unrecht in der Öffentlichkeit bloßgestellt wurde, warum hat er das nicht geschrieben? Das hätte doch jeder in so einer Situation gemacht. Nur ein paar Zeilen: »Ich halte es nicht mehr aus, ich will nicht noch mal von vorne anfangen, aber ich war es nicht!« Nur: Es gibt keinen Abschiedsbrief. Es wäre also gut möglich, dass er Selbstmord begangen hat, weil er der Täter ist.
Warum will er eigentlich, dass Heimann der Täter ist? Warum hat er Ohayon gegenüber so ausführlich begründet, dass Kristinas Aufsatz gar nicht so zwingend auf Lust an Gewalt hindeutet? Natürlich! Weil das eine rationale Möglichkeit von hoher Wahrscheinlichkeit ist. Wirklich rational? Hat er nicht vielmehr versucht, Kristina zu entlasten? Kann es nicht sein, dass er insgeheim einen solidarischen Bund mit ihr eingegangen ist? Aber warum? Er kennt sie doch garnicht, hat noch nie mit ihr gesprochen. Oder ist alles viel einfacher? Will er einfach nicht, dass ein sechzehnjähriges Mädchen so etwas tut?
Das Schicksal hat es offenbar gut mit ihm gemeint und sein Dilemma für ihn gelöst. Egal, ob Heimann Selbstmord begangen hat oder ermordet wurde, der Spuk mit Kristina ist vorbei.
Grenier kommt rein, ohne anzuklopfen. »Wir sind fertig. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich wollte ganz sicher sein.«
»Und?«
»Einfach nur Unfall. Er ist ausgerutscht und ertrunken.«
»Scheiße.«
Resnais ist sehr aufgeregt. »Entschuldigt, wenn ich hier so reinplatze, aber … Hier hat eben ein Anwalt angerufen und gesagt, dass er die Interessen von Silvia Stühler vertritt. Er wird morgen früh mit ihr vorbeikommen.«
»Gleich mit Anwalt? Warum das?«
»Würde sagen, zwei Möglichkeiten: Entweder sie ist einfach extrem ängstlich, oder da ist was.«
»Danke, Resnais.«
Grenier und Resnais verlassen das Büro, und Roland setzt sich an seinen Schreibtisch. Er ist müde und findet trotzdem keine Ruhe. Die Tatsache, dass Heimann einfach nur in der Badewanne ausgerutscht ist, widerlegt Ohayons schöne Theorie. Heimann ist nicht der Schlüssel. Der Brandanschlag war vermutlich doch nur die Tat eines aufgebrachten Bürgers. Roland Colbert ist klar, dass er nicht mehr ausweichen kann. Kristina, nicht Heimann, steht im Zentrum ihres Falls.
Sechster Tag – Donnerstag
Marie Grenier hatte noch nie mit Albert Munier zu tun. Er ist ihnen in den ersten Tagen zur Verstärkung zugeteilt worden.
Sie begrüßen sich kurz und gehen zu dem Bereich der Brandstelle, wo früher die Eingangstür von Walter Heimanns Haus war. Albert Munier erklärt Grenier, was er herausgefunden hat.
»Das Feuer ist mit Sicherheit hier ausgebrochen. Ich hab ein paar Proben ins Labor geschickt. Das Ergebnis: Benzin. Brandstiftung. Sonderbar fand ich allerdings, dass hier unten noch ein Rest von der Wand steht. Ich habe mit den Nachbarn gesprochen. Die haben den Brand bemerkt, kurz nachdem er ausgebrochen ist. Sind von einem merkwürdigen Geräusch aufgewacht. Sagen sie. Nach der Beschreibung eine klassische Verpuffung. Die Frau meinte, sie hätte außerdem ein Pfeifen gehört.«
»Ein Pfeifen?«
»Ein Pfeifen gehört. Als sie raus sind, hat bereits die halbe Wand gebrannt.«
»Die halbe? Haben sie das gesagt?«
»Die obere Hälfte.«
»Also hat jemand Benzin gegen die Wand
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