Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Bullen gegönnt. Und das ist der Glaskasten. Der Eingangsbereich. Ein durchsichtiger Klotz, der an dem Betonklotz klebt. Hier hat Ohayon Pierre Agneau verabschiedet.
Hier steht er auch jetzt und gießt zum dritten Mal den Gummibaum. Danach stellt er die kleine Kanne ab und betrachtet die Pflanze. Die ist allen ein Rätsel. Sie wächst nicht, stirbt aber auch nicht. Es gibt eine Menge Theorien, woran das liegt. Die meisten Kollegen meinen, der Gummibaum bekäme zu viel Wasser, und bringen in diesem Zusammenhang Ohayons Namen ins Spiel. Gerade einige der älteren Mitarbeiter weisen immer wieder darauf hin, dass es dem Gummibaum früher sehr gut gegangen ist. Bis eben Ohayon vor fünfzehn Jahren im Kommissariat angefangen hat. Auch der Vorschlag, die Pflanze umzutopfen, ist mehrfach gemacht worden. Das geschah aber nicht. Weil jemand gelesen hatte, dass Gummibäume ausgesprochen konservativ sind und so was gar nicht vertragen.
Ohayon hebt ein heruntergefallenes Blatt auf, legt es inden Blumentopf. Warum treibt er sich neuerdings so oft hier herum? Es wirkt ja fast, als wolle er, dass der Gummibaum mit ihm spricht. Aber worüber sollte er sprechen?
Ohayon geht zurück in sein Zimmer im dritten Stock. Dort setzt er sich an seinen Schreibtisch und betrachtet eine Weile die wenigen Gegenstände, die darauf liegen. Nachdem er die Anordnung der Gegenstände vollständig erfasst hat, verlässt er sein Büro wieder. Auf dem langen Gang oben? Nichts. Im Treppenhaus? Nichts. Und im Erdgeschoss? Auch keine Erleuchtung. Es passiert gar nichts in seinem Kopf. Schließlich steht Ohayon wieder im Glaskasten. Hier war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass da was war, während des Verhörs von Monsieur Agneau. Vielleicht kommt es wieder. Und so steht er eine Weile herum. Doch leider: keine Erinnerung, keine Erkenntnis. Er dreht sich nach links, macht zwei Schritte, betrachtet erneut den Gummibaum. Der hat sich nicht verändert.
Ohayon versucht es noch eine Weile mit dem Erinnern, hat aber kein Glück. Er gibt den Versuch schließlich auf, geht zurück, überlegt, ob er in die Kantine gehen soll. Aber die hat um diese Uhrzeit sicher schon zu. Plötzlich fällt ihm ein Papierkorb auf, der schon seit zwei Tagen im Gang steht und ihn ärgert. Das hat schon Methode, dass jemand aus der Verwaltung seinen vollen Papierkorb einfach auf den Gang stellt. Hinter diesem Papierkorb, das weiß Ohayon, steckt so was wie ein kalter Krieg.
Es hat damit begonnen, dass die Putzfrauen sich weigerten, im Winter die Sachen zum Container zu bringen. Das wiederum hing damit zusammen, dass das letzte Stück des Wegs dorthin nicht gestreut wurde. Es war ihnen nie gelungen zu ermitteln, warum dieses letzte Stück nicht gestreut wurde. Die aus der Verwaltung waren natürlich der Meinung, dass es nicht zu ihren Aufgaben gehört, Papierkörbe zu entleeren. Es war zum Papierkorbkrieg gekommen. Diesen Krieg hatten die Putzfrauen gewonnen. Am Ende hatte RolandColbert ein Machtwort gesprochen und angeordnet, dass die Mitarbeiter der Verwaltung ihre Papierkörbe selbst wegzubringen hatten. Daran hielten sich inzwischen auch alle. Trotzdem stand hin und wieder so ein Ding auf dem Gang.
Ohayon überlegt einen Moment und entschließt sich dann, das Ärgernis zu beseitigen. Er nimmt den Papierkorb, geht den Gang zurück, durchquert den Glaskasten, verlässt das Gebäude. Die Sonne ist gerade untergegangen, es ist kälter geworden, es ist glatt.
Immerhin, das abendliche Licht ist sehr schön. Ohayon ärgert sich über seine Idee, den Papierkorb von jemand anderem wegzubringen. Aber nun hat er sich mal auf den Weg gemacht, nun will er es auch zu Ende bringen. Er kommt zu den Papiercontainern, öffnet einen und entleert den Papierkorb. Danach bleibt er noch eine Weile dort stehen. Ein gut zu benennendes Lustgefühl steigt auf. Auf der anderen Straßenseite steht nämlich der Wagen, der frittierte Sachen verkauft. Der Fischhändler … Ohayon überlegt kurz, widersteht seiner Lust nicht, überquert also, zusammen mit seinem Papierkorb, die Straße. Dabei fällt ihm ein Renault Twingo auf. Ohayon steht zwar nicht auf Kleinwagen, aber die Farbe des Twingos gefällt ihm. Liegt vielleicht nur an dem schönen Licht … Er erinnert sich, dass vor zwei Wochen ein längerer Artikel über die Anfänge der Firma Renault in der Zeitung stand. Es gab Abbildungen von den großen Limousinen der Anfangszeit. Sie waren alle schwarz. Heute sind sie klein und bunt … Ohayon kommt zu dem
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