Schneetreiben
Schultern bebten
unter schwerem Keuchen, das schlohweiße Haar flog in der Luft.
Er blickte sich zu den Kollegen um. Inzwischen hatten alle am
Fundort sie entdeckt. Selbst die Leute von der Spurensicherung hielten inne und
sahen gebannt zu ihr hinüber.
In das Keuchen der Frau mischte sich ersticktes Wimmern. Sie war
jetzt nur noch wenige Meter entfernt und humpelte direkt auf sie zu. Hambrock
erkannte den Ausdruck in ihrem Gesicht. Es war Panik.
Er begriff sofort: Die Frau war die Mutter der Toten. Sie hatte
irgendwie Wind von der Sache bekommen. Ihm wurde klar, was als Nächstes
passieren würde. Die Frau würde zum Graben rennen und die wenigen Spuren
zerstören, die sie hatten.
»Lasst sie nicht zum Fundort!«, rief er.
Die Blase zerplatzte. Zwei Schutzpolizisten lösten sich augenblicklich
aus ihrer Starre und stellten sich der Frau in den Weg. Sie fingen sie gerade
noch rechtzeitig ab, bevor sie unter das Absperrband tauchen und zum Graben
durchdringen konnte.
»Lasst mich!« Sie wand sich im eisernen Griff der beiden Männer.
»Lasst mich los!«
Dann reckte sie wild den Kopf und erhaschte einen Blick auf die
Leiche.
»Sandra!« Sie bäumte sich mit aller Kraft auf. »Mein Gott! Sandra!«
Vergeblich versuchte sie sich zu befreien. »Sandra!«
Die Schreie ließen Hambrock zusammenfahren. Er machte ein paar
Schritte auf sie zu, als mit einem Mal alles Leben aus der Frau entwich und sie
in die Umklammerung der beiden Polizisten sank. Die jungen Männer tauschten
Blicke, die Erschrecken und Überforderung spiegelten, dann trugen sie die Frau
zu einem Streifenwagen, setzten sie auf die Rückbank und versuchten, beruhigend
auf sie einzureden.
Während ihre Beine im Innern des Autos verschwanden, bemerkte
Hambrock, dass sie Hausschuhe trug. Winzige Filzpantoffeln, durchnässt und
voller Schlamm. An den Seiten klebten Stoffbärchen mit rosigen Wangen und
Schleifchen im Haar. Sie hatte so kleine Füße, dass sie Kinderschuhe trug.
»Das ist es, was ich an dem Job so liebe«, sagte Guido Gratczek und
strich sich mit der Hand durchs Gesicht. Dann wandte er sich ab, trat einen
Schritt zurück und säuberte erneut die Lackschuhe am nassen Gras.
Später im Präsidium dachte Hambrock an die Stoffbärchen,
die an Brigitte Hahnenkamps Filzpantoffeln klebten. Er stand am Fenster und
blickte hinaus auf den verkehrsreichen Stadtring. Inzwischen war die Sonne
hervorgebrochen, und die Gärten der Wohngebiete hinter dem Ring leuchteten in
herbstlichen Farben.
Frau Hahnenkamp war mit einem schweren Schock ins Krankenhaus
gebracht worden. Sie hatte von einem Nachbarn erfahren, dass die Straße am
Bushäuschen abgesperrt war, und hatte sich sofort auf den Weg gemacht.
Hambrock stand mit dem Rücken zur Bürotür, so bemerkte er Guido
Gratczek erst, als der bereits auf der Schwelle stand und mit einem Räuspern
auf sich aufmerksam machte.
Hambrock drehte sich um. »Gibt’s was Neues?«
»Hubert Hahnenkamp hat seine Tochter identifiziert. Ich war eben mit
ihm in der Rechtsmedizin.«
Hambrock ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken.
»Also gut.« Er verschränkte die Arme. »Was wissen wir über das
Opfer?«
»Sandra Hahnenkamp hat hier in Münster Germanistik und Politologie
studiert, im zehnten Semester. Für das Studium hat sie sich allerdings nicht
sehr engagiert, das sagt zumindest ihre Mitbewohnerin. Offenbar war sie
häufiger im Nachtleben als an der Universität. Sie hat in einer Bar als
Kellnerin gearbeitet.«
»Was für eine Bar?«
»Der Siam Club am Theater. Das Publikum besteht hauptsächlich aus
Schauspielern und Studenten. Ich kenne den Laden, ist ganz gemütlich, aber
nichts Besonderes. Sandra Hahnenkamp hatte einen festen Freund, der ebenfalls
in der Gastronomie arbeitet, in einer Disko am Hauptbahnhof. Er heißt Tilmann
Feth.«
»Gut. Mit dem sollten wir zuerst reden.«
»Ich fahre gleich zu ihm.«
Guido Gratczek wandte sich bereits zur Tür, als ihm noch etwas
einfiel.
»Ich habe übrigens mit Möller von der Spurensicherung gesprochen. Du
erinnerst dich an den Fußabdruck, den wir am Fundort gesichert haben?«
»Natürlich.« Man hatte den Abdruck unter dem Vordach des
Bushäuschens entdeckt, doch Hambrock hatte sich nicht allzu viel davon
versprochen. Er ging davon aus, dass er von jemandem stammte, der mit dem Bus
nach Münster gefahren war.
»Die Schuhgröße ist vierundvierzig, wahrscheinlich gehört er einem
Mann.«
»Und weiter?«
»Der Abdruck ist von einem
Weitere Kostenlose Bücher