Schneetreiben
gerade erst aufgestanden.
In ihrer Mitte saß ein Mittvierziger mit langem lockigem Haar,
zahllosen Tätowierungen und zerrissenen Jeans. Offenbar der Chef.
»… ich unterstelle hier keinem,
dass er klaut. Aber wenn ihr weiterhin so großzügig ausschenkt, dann gehen wir
bald den Bach runter, das verspreche ich euch.« Er sah auf und entdeckte den
Mann auf der Tanzfläche. »Was machen Sie hier? Die Bar ist geschlossen.«
Gratczek trat näher. »Ich suche Tilmann Feth.«
»Wir sind hier in einer Teambesprechung. Sie können nicht einfach
hereinspazieren und mit irgendwelchen Leuten sprechen. Wer sind Sie überhaupt?«
Gratczek zog würdevoll den Dienstausweis hervor. »Mein Name ist
Guido Gratczek, ich bin von der Münsteraner Kriminalpolizei. Ich fürchte
leider, dass mein Anliegen keinen Aufschub duldet. Wo finde ich also Herrn
Feth?«
Die Augen des Mannes verengten sich. Gratczek glaubte zu erkennen,
wie seine Gedanken rasten. Kam der Polizist wegen einer Drogengeschichte? War
sein Mitarbeiter in womöglich noch schlimmere Dinge verwickelt?
»Er ist hinten«, sagte er widerwillig. »Auf dem Klo.«
Gratczek blickte sich um und hob fragend die Hände. »Hinten?«
»Die Tür gegenüber der vorderen Bar. Er hat einen Anruf bekommen.
War wohl was Wichtiges.«
»Wann hat er diesen Anruf bekommen?«
Der Mann blickte ihn verständnislos an. »Vor fünf Minuten.«
»Und dann ist er mit dem Handy auf die Toilette gegangen?«
»Um ungestört sprechen zu können, ganz genau.«
Gratczek nickte liebenswürdig und wandte sich ab.
Die Herrentoilette schien auf den ersten Blick verwaist. Eines der
Deckenlichter flackerte, und starker Uringeruch hing in der Luft. Gratczek
hätte sich am liebsten ein Taschentuch vor die Nase gehalten.
»Hallo?« Er bekam keine Antwort. »Tilmann Feth?«
Er sah sich um. Eine der Kabinentüren war geschlossen, er trat näher
und stieß sie vorsichtig auf. Auf dem Klodeckel kauerte zusammengesunken ein
Mann. Er reagierte zunächst nicht auf Gratczeks Anwesenheit, sondern starrte
weiterhin mit leichenblassem Gesicht auf den Boden. Dann hob er mühsam den Kopf
und sah den Polizisten aus leblosen Augen an.
Vor der Kloschüssel lag ein Handy in einer Wasserlache. Offenbar war
es ihm aus der Hand gerutscht und auf die Fliesen gefallen. Gratczek konnte
sich gut vorstellen, was das für ein Anruf gewesen war, den Tilmann Feth
bekommen hatte. Jemand musste ihm mitgeteilt haben, dass seine Freundin tot
war.
»Sind Sie Tilmann Feth?«, fragte er.
Der junge Mann sah durch ihn hindurch. Er antwortete nicht.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich unangemeldet hier auftauche, aber
ich muss mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Guido Gratczek, ich arbeite bei der
Kriminalpolizei. Wir untersuchen den
Mordfall an einer jungen Studentin aus Münster, von der wir leider annehmen
müssen, dass Sie mit ihr bekannt waren …«
»Es ist Sandra.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Sie ist tot. O
mein Gott.« Er schloss die Augen, als könnte er dadurch die Wahrheit von sich
fernhalten.
Gratczek blickte sich hilflos in der Herrentoilette um. Er hasste
solche Situationen. Er knöpfte sein Jackett auf, ging in die Knie und hob mit
spitzen Fingern das Handy auf. Dann zerrte er Klopapier von der Rolle, wischte
es ab und gab es ihm zurück.
»Kommen Sie«, sagte er. »Ich bringe Sie nach Hause.«
Tilmann Feth ließ sich willenlos von Gratczek auf die Beine helfen.
Der Kommissar führte ihn vorbei an den erschrockenen Kollegen, die ihnen mit
fragenden Blicken hinterhersahen, und hinaus ins grelle Tageslicht des
Bahnhofsviertels.
Er fuhr ihn auf direktem Weg nach Hause. Tilmann Feth wohnte in
einer winzigen Dachgeschosswohnung, vollgestopft mit selbst gezimmerten Möbeln
und bunten Bildern. Überall herrschte Unordnung, und dennoch strahlte die
Wohnung Gemütlichkeit und Wärme aus.
Der junge Mann, der die ganze Zeit über kein Wort gesagt hatte,
blickte ihn an. Er wirkte wie ein Kind, das sich im Wald verirrt hatte.
»Und was mache ich jetzt?«, fragte er.
»Jetzt stellen Sie sich erst einmal unter die Dusche.« Gratczek
wusste genau, welch wundersame Wirkung gründliche Körperpflege auf das
psychosoziale Gleichgewicht eines Menschen haben konnte. »Ich mache uns in der
Zwischenzeit einen starken Kaffee.«
Während nebenan die Dusche rauschte, blickte er sich um. Auf dem
Küchenschrank stand ein gerahmtes Foto, das Sandra Hahnenkamp und Tilmann Feth
zeigte, irgendwo am Strand, wo sie sich lachend
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