Schneetreiben
umarmten.
Als der junge Mann im Bademantel in die Küche kam, sorgte Gratczek
dafür, dass er sich auf einen Platz setzte, von dem aus er das Bild nicht sehen
konnte.
»Sandras Vater hat mich angerufen«, erklärte er und nahm dankbar die
Kaffeetasse entgegen. »Ich kann es noch gar nicht glauben. Ich denke immer
noch, es muss alles ein großes Missverständnis sein. Birkenkotten ist doch
nicht Berlin. Wie kann dort so etwas passieren?«
»Das weiß ich nicht. Wann haben Sie Ihre Freundin das letzte Mal
gesehen?«
Er dachte nach. Dann sackte er zusammen und wiederholte die Worte,
als wäre es ein Todesurteil: »Das letzte Mal.«
»Ich muss Sie das leider fragen. Wir sind bei unseren Ermittlungen …«
»Schon gut, ich verstehe das. Gestern Abend habe ich sie gesehen.
Wir waren hier bei mir, bevor sie nach Birkenkotten gefahren ist. Ich habe sie
zum Bus gebracht.«
»Wann genau war das?«
»Der letzte Bus fuhr um 22 Uhr 35.
Wir waren pünktlich am Bahnhof. Dort haben wir uns verabschiedet.«
»Ist sie allein in den Bus gestiegen, oder hat sie jemanden
getroffen?«
»Sie ist allein eingestiegen. Am Bahnhof war eine Menge Leute, aber
niemand, den wir kannten. Ob sie jemanden im Bus getroffen hat, das weiß ich
nicht.«
»Was haben Sie im Anschluss gemacht, nachdem der Bus abgefahren
ist?«
»Ich bin zu einer Arbeitskollegin gegangen. Sie hat eine Party
gegeben. Eigentlich wollten Sandra und ich früher am Abend zusammen dorthin
gehen. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen, irgendwie haben wir die Zeit
verbummelt, und dann war es schon so spät, dass wir direkt zum Bahnhof mussten.
Ich bin also alleine auf die Party gegangen.«
»Waren Sie den ganzen Abend dort?«
»Ja, natürlich. Ich bin erst um drei oder vier nach Hause gegangen.«
Gratczek zückte seinen Notizblock. »Wie heißt diese
Arbeitskollegin?«
Tilmann Feth sah ihn überrascht an. Offenbar hatte er nicht damit
gerechnet, nach einem Alibi gefragt zu werden.
»Tut mir leid, ich muss das fragen. Sicher haben Sie Verständnis
dafür.«
»Natürlich. Kein Problem. Sie heißt Jana Tramp und wohnt in der
Staufenstraße 7. Ich kann
Ihnen auch die Telefonnummer heraussuchen. Wenn Sie wollen, können Sie sofort
von hier aus anrufen. Die Teambesprechung müsste inzwischen vorbei sein.«
»Das wird nicht nötig sein, danke. Hatte Sandra irgendwelche Feinde,
von denen Sie wissen?«
Tilmann Feth sah ihn völlig verständnislos an. »Feinde?«
»Vielleicht gab es Ärger auf der Arbeit?«, schlug Gratczek vor.
»Eifersüchteleien? Irgendetwas, das andere gegen sie aufgebracht haben könnte?«
»Nein. Sie hatte keine Feinde. Ganz im Gegenteil. Alle mochten sie.
Sie war ein Kumpeltyp, verstehen Sie? Sie kam mit den Leuten gut zurecht.«
»Was für einen Eindruck hatten Sie gestern Abend von ihr? Hat sie
sich in irgendeiner Weise auffällig verhalten? War sie anders als sonst? Hatte
sie Angst?«
Tilmann Feth dachte nach. »Nein. Alles war ganz normal.«
»Vielleicht hat sie eine Andeutung gemacht? Denken Sie nach. War
wirklich nichts Auffälliges an ihr?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie hatte keine große Lust auf die Party in
Birkenkotten. Sie ist nur ein paar alten Freundinnen zuliebe dorthin gefahren.
Diese Partys auf dem Land langweilten sie.« Tränen traten in seine Augen. »Sie
wollte da gar nicht hin, verstehen Sie?«
Guido Gratczek wäre beinahe ein Seufzer entfahren. Hier würde er
nicht mehr viel erfahren. Falls es überhaupt etwas zu erfahren gab.
»Vielleicht war da doch was Ungewöhnliches …«, meinte der junge Mann plötzlich.
»Wie bitte?«
»Sandra hat am Nachmittag mit jemandem telefoniert, den sie aus
Birkenkotten kannte. Sie haben am Telefon miteinander gestritten, sie wollte
mir aber nicht sagen, worum es dabei ging. Sie meinte, es wäre eine alte
Geschichte aus der Bauernschaft, die mich nicht interessieren würde.«
»Hat sie Ihnen denn nicht gesagt, mit wem sie telefoniert hat?«
»Nein. Aber ich habe gehört, wie sie den Anrufer mit Martin
angesprochen hat.«
»Martin?«
Gratczek traute seinen Ohren nicht. War es möglich, dass Sandra
Hahnenkamp mit Martin Probst telefoniert hatte?
»Haben Sie sonst noch etwas von dem Gespräch aufgeschnappt?«, fragte
er.
»Nein, so gut wie nichts. Es ging wohl um etwas, das vor vielen
Jahren in Birkenkotten passiert ist. Sandra war sehr aufgebracht deswegen.
Einzelheiten habe ich jedoch nicht verstanden, und dann hat sie ihre Zimmertür
geschlossen, um ungestört zu
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