Schneetreiben
sein.«
»Denken Sie gut nach. Jedes einzelne Wort könnte von Bedeutung sein.
Ist bei dem Gespräch ein weiterer Name gefallen?«
Er dachte lange nach. »Der Name Klara ist gefallen. Aber ich weiß
wirklich nicht, worum es dabei ging.«
Klara Merschkötter! Gratczeks Gedanken rasten. Unter Umständen
könnte Martin Probst also gewusst haben, dass Sandra den letzen Bus nach
Birkenkotten nehmen wollte. Was bedeutete …
»Aber was ist denn eigentlich genau passiert?«, erkundigte sich
Tilmann Feth. »Sandras Vater hat einmal erwähnt, dass diese Klara vor einigen
Jahren vergewaltigt wurde. Stimmt das denn?«
Gratczek sah verwirrt auf. Irgendwie hatte er gehofft, dass ihm
diese Frage erspart bleiben würde.
»Ich …« Er stockte.
»Sie müssen doch wissen, was passiert ist! Sagen Sie es mir!« Feth
kämpfte mit seiner Fassung.
»Also gut.« Gratczek drängte seine fieberhaften Schlussfolgerungen
zur Seite und atmete durch. »Natürlich weiß ich, was geschehen ist.«
Nachdem sich Hambrock von Dorothea Probst verabschiedet
hatte, setzte er sich in den Dienstwagen, den er neben dem Friedhof abgestellt
hatte, und dachte nach. Das Gespräch hatte nichts ergeben. Sollte Frau Probst
tatsächlich etwas über den Verbleib ihres Adoptivsohns wissen, war sie eine
gute Schauspielerin. Sie gab sich unwissend und verwirrt und völlig überrollt
von den Ereignissen. Beinahe war er geneigt, ihr zu glauben.
Aber ein Zweifel blieb. Irgendetwas sagte ihm, dass Frau Probst in
diesem Mordfall eine Rolle spielte, auch wenn er noch nicht sagen konnte,
welche.
Er beschloss, nach Birkenkotten zu fahren. Es wäre kein großer Umweg
auf der Rückfahrt nach Münster. Er wollte den Merschkötters einen Besuch
abstatten. Früher oder später musste er das ohnehin tun, also konnte er es auch
gleich jetzt hinter sich bringen.
Als er den Motor anlassen wollte, klingelte sein Handy. Es war
Erlend. Sie rief ihn aus ihrem Büro an der Universität an.
»Hallo Bernhard. Ich will nicht lange stören, ich habe von dem
Mordfall im Radio gehört. Bestimmt ist bei euch die Hölle los.«
»Ja, ziemlich. Rufst du wegen heute Abend an?«
»Eigentlich ja. Aber ich will dich nicht unter Druck setzen. Wir
können ein andermal ins Kino gehen.«
»Ich werde versuchen zu kommen. Versprechen kann ich aber nichts.«
»Im Radio heißt es, dass der Mord von einem flüchtigen Straftäter
begangen wurde, der irgendwo im Münsterland unterwegs sein soll. Ist das denn
wahr?«
Na toll!, dachte Hambrock. Die Pressekonferenz hatte noch nicht
stattgefunden, und trotzdem wussten alle längst Bescheid.
»Kann schon sein. Im Moment können wir aber nichts Konkretes sagen.«
»Du brauchst nicht gleich förmlich zu werden. Ich bin nicht von der
Bild-Zeitung. Ich bin deine Ehefrau.«
»Elli, bitte! Du weißt doch, dass ich nichts darüber sagen darf.«
»Ja, schon gut.« Sie schwieg einen Moment. »Stimmt es, dass dieser
Mann vor einigen Jahren schon einmal eine Frau in Birkenkotten vergewaltigt und
ermordet hat?«
»Nur vergewaltigt, nicht ermordet. Das war vor sechs Jahren. Aber
mehr will ich wirklich nicht sagen.«
»Hattest du denn mit dem Fall damals etwas zu tun?«
»Nein, überhaupt nichts. Ich habe erst jetzt davon erfahren.« Er
stockte. Es war ihm einfach so herausgerutscht, er hatte nicht geplant, seine
Frau anzulügen. »Die Kollegen von der Kreispolizei Borken haben damals die
Ermittlungen geführt.« Er ignorierte sein schlechtes Gewissen. Es war zu spät,
die Geschichte richtigzustellen. Dann würde sie erst recht merken, dass etwas
nicht stimmte. »Außerdem war ich zu der Zeit noch in Essen bei der Kripo, wo ich …« Weiter kam er nicht.
»Ich habe einen Anruf auf der anderen Leitung«, sagte sie
plötzlich. »Ich muss leider Schluss machen. Vielleicht sehen wir uns ja heute
Abend. Bis dann.«
Es knackte, und er lauschte in die tote Leitung. Ein Lkw donnerte an
ihm vorbei, vermutlich auf dem Weg in die Niederlande. Hambrock warf das Handy
auf den Beifahrersitz und startete den Wagen.
Es war nicht weit bis zum Hof der Merschkötters. Der kleine Kotten
lag abseits der Hauptstraße auf einem Hügel. Ein holpriger Schotterweg führte
hinauf. Die vielen Schlaglöcher ließen ahnen, wie lange keine Ausbesserungen
mehr daran vorgenommen worden waren. Die Hofgebäude waren in einem ähnlich
schlechten Zustand. Das Wohnhaus wirkte windschief und war umrankt von wildem
Knöterich. Die Sonne warf helle Flecken auf die ausrangierten Landgeräte,
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