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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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ist das möglich,
Bernhard? Wie kann man sich so sehr in einem Menschen irren?«
    »Du würdest dich wundern, hinter welchen Masken sich Verbrecher
verstecken.«
    »Aber er war so sympathisch! Ich wünschte, ich könnte das
verstehen.«
    »Nun ja. Offenbar weiß Martin, dass es falsch ist, was er tut. Er
versucht sogar, dagegen anzukämpfen.«
    Sie zog irritiert die Stirn in Falten.
    »Ich habe in den letzten Tagen ein paar Mal mit seinem Therapeuten
gesprochen«, erklärte er. »Dadurch habe ich ein wenig über ihn erfahren. In
Neustrelitz, wo er nach dem Jugendknast neu angefangen hatte, da gab es sogar
eine Freundin. Er war verliebt, und sie war es auch. Er wollte alles vergessen
und hat sich bemüht, ein ganz normales Leben zu führen. Doch am Ende musste er
es einfach wieder tun. Er musste seine Aggressionen auf diese Weise entladen.
Es ist wie ein Zwang.«
    »Dann ist er eine tickende Zeitbombe.«
    »Vielleicht. Aber er hofft auf Erlösung. Er ist nämlich zugleich ein
ganz normaler Junge, der darunter leidet, sich von der Gesellschaft zu
entfernen. Er hat sich wohlgefühlt in Birkenkotten. Hier waren seine
Adoptivmutter, seine Kumpel und der Fußballverein. Das alles hat er sich
verbaut. Er musste ganz von vorne anfangen. Und als er in Neustrelitz endlich
Fuß gefasst hatte, war es wieder das Gleiche. Er macht sich alles kaputt,
obwohl er doch im Grunde nur Anerkennung und Gemeinschaft sucht. Er ist kein
Monster, verstehst du? Er ist ein Mensch, genau wie wir.«
    Keiner hatte Klara kommen hören. Sie stand plötzlich im Zimmer und
starrte die beiden fassungslos an. Hambrock hätte sich am liebsten auf die
Zunge gebissen.
    Ingeborg stand auf. »Klara …?«
    Doch Klara bedachte ihre Mutter nur mit einem kühlen Blick und
wandte sich an Hambrock.
    »Ich glaube, ich habe eine Beobachtung gemacht«, sagte sie
distanziert. »Es ist mir gerade wieder eingefallen.«
    »Eine Beobachtung? Welche?«
    »In der Nacht, in der Sandra ermordet wurde, fand bei Burtrup eine
Party statt, wie Sie bestimmt wissen. Ich war ebenfalls dort, und irgendwann
ist der Hofhund in den Garten gelaufen. Ich wollte ihn zurückholen … und
da habe ich einen Mann gesehen. Hinterm Hof auf der Straße.«
    »Wo genau war das?«
    »Er stand an der Haltestelle im Regen. Es war Martin, da bin ich
sicher. Ich hatte gleich so ein komisches Gefühl. Er stand dort und hat zu mir
herübergesehen.« Sie schlang die Arme um den Oberkörper. »Er muss da Sandra
gerade vergewaltigt und ermordet haben.«
    In dieser Nacht konnte Klara nicht schlafen. Einmal war
sie kurz weggedämmert, aber dann hatte Martin im Traum ihr Zimmer betreten, und
sie war sofort wieder hochgeschreckt. Es ärgerte sie, dass sie keinen Schlaf
fand. Sie wollte nicht von ihren Erinnerungen beherrscht werden.
    Sie schlug die Bettdecke zur Seite, warf den Morgenmantel über die
Schultern und trat an die Balkontür. Der Mond schimmerte zwischen den Wolken
hindurch und warf ein schwaches silbriges Licht auf die Felder.
    Sie wünschte sich, Jens wäre bei ihr. Sie sehnte sich sogar ganz
schrecklich nach ihm. Sie wollte seinen warmen Körper neben sich im Bett spüren
und seinem ruhigen gleichmäßigen Atem lauschen, wie sie es so oft tat, wenn er
bereits eingeschlafen war und sie neben ihm wach lag.
    Doch sie war selbst schuld, dass er nicht da war. Vor ein paar
Stunden erst hatte sie ihn weggeschickt. Er war am frühen Abend aufgetaucht,
gleich nachdem er erfahren hatte, was passiert war. Aber als er mit seinem
besorgten Gesicht in der Tür gestanden hatte und sie in den Arm nehmen wollte,
da war es ihr plötzlich zu viel geworden. Da hatte sie das starke Bedürfnis
nach Abstand gehabt. Sie wollte allein sein. Zwar hatte ihre Abweisung ihn
sichtbar verletzt, doch er hatte es akzeptiert und war ohne eine weitere
Bemerkung gegangen.
    Jetzt bereute sie es. Aber es ließ sich nicht mehr ändern. Sie ließ
ihren Blick über den Schotterweg und die Landstraße schweifen. Alles schien
ausgestorben. Dennoch war sie überzeugt davon, dass Martin irgendwo in der Nähe
war. Er würde zu ihr kommen, früher oder später würde er auftauchen und es ihr
heimzahlen, dass sie zur Polizei gegangen war. Es war nur eine Frage der Zeit.
»Wenn du etwas sagst, dann komme ich wieder und werde mich rächen«, das waren
seine Worte gewesen.
    Im Stall ihrer Nachbarn ging das Licht an. Kurz darauf wehte ein
leises, monotones Surren zu ihr herüber. Die Kornmühle war eingeschaltet
worden, wie jeden Abend um diese

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