Schneetreiben
gesehen, obwohl sie im selben
Bus saßen. So etwas kommt vor.«
Gratczek dachte darüber nach. Vielleicht hatte Probst gar nicht
gewollt, dass Sandra Hahnenkamp ihn sieht. Deshalb war er in seinen Sitz
gesunken und hatte sich schlafend gestellt.
Er wandte sich an den Busfahrer.
»Sie sagten, dieser Mann kam nach vorne gelaufen, weil er seine
Station verschlafen hatte. Wie weit waren Sie da von der Haltestelle
Birkenkotten entfernt?«
»Ich war gerade erst losgefahren. Man fährt durch eine Kurve, bevor
es geradewegs nach Stadtlohn weitergeht. In dieser Kurve habe ich ihn springen
lassen. Das sind vielleicht zweihundert Meter, mehr nicht.«
Zweihundert Meter!, dachte er. Das bedeutete, dass Martin Probst zur
Tatzeit am Tatort gewesen war. Gratczek wollte sich davor hüten, vorschnelle
Schlussfolgerungen zu ziehen.
Trotzdem.
Klara war allein. Ihre Zimmertür war fest verschlossen,
und die Geräusche aus dem Haus drangen nur gedämpft zu ihr hindurch. Sie fühlte
sich wie in einer Luftblase.
Der Kommissar war noch immer da. Er saß im Wohnzimmer und redete mit
ihrer Mutter. Nachdem sich Klara vom ersten Schrecken erholt hatte, war sie
hinuntergegangen und hatte mit ihm gesprochen. Doch sie hatte ihm kaum
weiterhelfen können.
Nun lag sie wieder auf dem Bett und starrte an die Decke. Ihre
Erinnerungen kehrten zurück. Sie waren erschreckend klar, obwohl die Sache
schon sechs Jahre zurücklag. Martins Gesicht schwebte über ihrem Kopf. In
seinen Augen funkelte Verachtung, und auf seinen Lippen lag ein
selbstzufriedenes Lächeln. Sein ganzes Gewicht lastete auf ihrem Körper, sodass
sie sich nicht mehr bewegen konnte.
Sie wusste, dass sie nichts wert war. Weniger als nichts. Er konnte
alles mit ihr machen, er konnte sie zerdrücken wie eine Schabe. »Wenn du was
sagst, komme ich wieder«, drohte er und wusste, dass sie genau verstand, was er
damit meinte. Er beugte sich dicht über sie und genoss jede Sekunde in vollen Zügen.
»Hörst du? Ich komme wieder und werde mich rächen.«
Sie sprang vom Bett auf. »Geh weg!« Sie riss die Balkontür auf und
sog die kühle Abendluft ein. »Geh weg!« Nur langsam beruhigte sie sich wieder.
Sie hatte so oft davon geträumt, es ihm zurückzuzahlen. In ihrer
Phantasie hatte sie ihm immer wieder ein Messer in die Brust gerammt, sie hatte
ihn mit Stiefeln getreten und auf ihn eingedroschen, hatte Pistolenschüsse
abgefeuert und ihn mit bloßen Händen erwürgt. Da war so viel Hass in ihr, dass
sie in Gedanken niemals gezögert hatte, ihn zu töten.
Doch was, wenn er tatsächlich auftauchte? Was würde sie ihm schon
entgegensetzen können? Sie wünschte sich so sehr, stark zu sein. Aber das war
sie nicht. Und es ließ sich auch nicht ändern. Sie war schwach. Das war es, was
sie am allermeisten verabscheute. Was war sie schon wert, wenn sich einer
einfach das Recht herausnehmen konnte, alles mit ihr anzustellen?
Was war sie da schon wert?
Unten im Wohnzimmer saßen Hambrock und Ingeborg
Merschkötter, vor ihnen auf dem Couchtisch standen zwei dampfende Kaffeetassen.
Hambrock hätte längst wieder in Münster sein müssen, sein Blick
wanderte unruhig zu seiner Armbanduhr. Doch er brachte es nicht über sich,
einfach aufzustehen und sich auf den Weg zu machen. Ein paar Minuten mehr oder
weniger würden auch nichts mehr ausmachen.
»Bestimmt wird Martin bald gefasst, Ingeborg«, sagte er. »Die
Fahndung läuft auf Hochtouren, es ist eine Frage der Zeit, bis sie ihn haben.
Wahrscheinlich sitzt er in ein paar Stunden wieder in Haft.«
Ingeborg Merschkötter spielte nervös mit ihren Händen.
»Ich habe trotzdem keine Ruhe. Was ist, wenn er plötzlich hier
aufkreuzt?«
»Ein Streifenwagen wird den Hof im Auge behalten. Wenn irgendwas
ist, kannst du die Polizei alarmieren. Es wird keine fünf Minuten dauern, bis
Hilfe da ist.«
Sie wirkte nicht sonderlich überzeugt.
»Es wäre doch Wahnsinn, hier aufzutauchen«, sagte er. »Martin muss
wissen, dass sich die Polizei in unmittelbarer Nähe aufhält. Wenn er klug ist,
hat er Birkenkotten längst wieder verlassen.«
Seine Worte beruhigten sie nicht. Dennoch gab sie sich geschlagen.
Mit einem Seufzer legte sie die Hände in den Schoß und wechselte das Thema.
»Kennst du ihn eigentlich? Persönlich, meine ich.«
»Martin Probst?« Hambrock schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ihn
nie getroffen.«
»Er war ein so netter Junge. Keiner in Birkenkotten hätte sich je
vorstellen können, dass er zu so etwas fähig ist. Wie
Weitere Kostenlose Bücher