Schneetreiben
Zeit, der Nachtstrom war eben günstiger. Mit
dem Surren im Ohr würde sie vielleicht besser einschlafen können.
Gerade wollte sie sich vom Fenster wegdrehen, als sie im Augenwinkel
eine Bewegung bemerkte. Da war etwas im Garten. Bei den Kiefern. Ihr Herz
setzte einen Schlag aus. Es regte sich kein Lüftchen, die Baumkronen ragten
starr in den Himmel – und doch schlugen die Zweige der Kiefern am Boden
zusammen und schaukelten sacht auf und ab.
Dort war jemand. Sie war ganz sicher. Er musste sich in den Büschen
versteckt halten.
Ihr wurde eiskalt. Martin. Das musste Martin sein. Er war in ihrem
Garten. Es war so weit, er war zu ihr gekommen.
Vor Angst, am Fenster gesehen zu werden, wich sie zurück. Was sollte
sie nur tun? Ihr wurde übel. Das Haus bot keine Sicherheit. Er würde überall
hineingelangen, ganz egal, wo sie sich versteckte. Sie brauchte es gar nicht
erst zu versuchen.
Es kostete sie große Überwindung, doch sie beugte sich vor und
spähte wieder hinaus. Es war nichts mehr zu sehen. Die Zweige der Kiefer kamen
zur Ruhe, alles war wie ausgestorben.
Wo war er jetzt? Mit hektischen Blicken suchte sie den Garten ab.
Panik erfasste sie. Er kommt. Vielleicht ist er schon im Haus. Zitternd setzte
sie sich in Bewegung und lief zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Unter ihren Füßen
knarrten die Dielen, die alte Tür quietschte im Scharnier, und dennoch wachte
ihre Mutter erst auf, als Klara an ihrer Schulter rüttelte.
Sie war sofort hellwach. »Klara? Ist etwas passiert?«
Ihre Stimme war ein ersticktes Flüstern. »Da ist jemand in unserem
Garten. Martin. Das muss Martin sein.«
Mit einem Ruck schlug Ingeborg Merschkötter die Bettdecke zur Seite
und stand auf. Klara nahm wahr, dass sie ihren uralten Frotteeschlafanzug trug,
auf dem hellblaue Teddybären aufgedruckt waren.
»Wir müssen die Polizei rufen«, sagte sie und lief entschlossen zum
Telefontisch im Flur. Auf dem Weg schaltete sie überall das Licht ein.
»Bernhard Hambrock hat mir die Telefonnummer der Einsatzleitung gegeben. Es
wird gleich jemand hier sein.«
Klara lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete ihre Mutter. Das
helle Licht im Haus und ihre resolut klingende Stimme am Telefon beruhigten
sie. Beinahe kam es ihr vor, als wäre die Sache im Garten nur ein Albtraum
gewesen, aus dem sie nun endlich erwacht war.
Nach dem Telefonat nahm Ingeborg Merschkötter sie in den Arm. »Es
wird höchstens fünf Minuten dauern, bis die Polizei hier eintrifft. Komm, wir
setzen uns in die Küche. Vielleicht war es ja auch ein Reh, das du gesehen
hast.«
Klara hatte noch nie gehört, dass Rehe in den Gärten von Bauernhöfen
auftauchten, dafür waren sie viel zu scheu. Sie sagte aber nichts und ließ sich
bereitwillig in die Küche führen, wo ihre Mutter sie an den Tisch setzte und
ihr eine heiße Schokolade zubereitete. Dann setzte sie sich ebenfalls, und sie
warteten gemeinsam auf das Eintreffen der Polizei.
Stille legte sich über den Raum. Klara blickte immer wieder zu den
Fenstern. Doch dahinter war nichts als die schwarze Nacht zu sehen.
Sind die fünf Minuten nicht längst vorbei?, fragte sie sich. Auch
ihre Mutter wurde immer nervöser.
»Schluss jetzt!«, sagte sie plötzlich und stand ruckartig auf. »Ich
werde mich nicht von einem Nachbarjungen einschüchtern lassen. So weit wird es
nicht kommen.« Sie holte ihre Gummistiefel aus der Waschküche und stieg hinein.
»Was hast du denn vor?«, fragte Klara besorgt.
»Das wirst du dann sehen.«
Ingeborg Merschkötter öffnete die Tür zur Terrasse und schaltete die
Außenbeleuchtung ein. Dann nahm sie eine Harke, die an der Wand lehnte, hob sie
schlagbereit über den Kopf und ging hinaus zu den Kiefern.
»Mama, bitte! Lass das.« Klara wagte sich nur bis zur Türschwelle
vor.
Doch Ingeborg Merschkötter stellte sich breitbeinig auf den Rasen.
»Wer ist da?«, brüllte sie. »Komm raus, du Feigling, damit ich dich sehen
kann.«
Nichts geschah. Die beiden Frauen warteten gebannt, aber es blieb
alles dunkel und unbewegt.
»Was ist denn? Traust du dich etwa nicht, du kleiner Hosenscheißer?«
Zu Klaras Überraschung bewegten sich plötzlich die Kiefernzweige,
und eine Gestalt zeichnete sich ab. Jemand trat auf den Rasen. Sie hielt die
Luft an.
Es war Marc, Linas Freund. Er machte ein betretenes Gesicht und
steckte die Hände in die Hosentaschen.
Ihre Mutter ließ die Harke sinken.
»Marc? Was machst du denn hier?«
»Tut mir leid, Frau Merschkötter. Ich wollte Sie nicht
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