Schneetreiben
Geistesblitz durchfuhr.
Das war es! Natürlich! Seine Wangen begannen zu glühen. Wie hatte er
das übersehen können?
Trotz seiner Eile nahm er sich die Zeit, den Mantel auszuziehen und
ihn akkurat auf den Bügel zu hängen. Dann rief er die Sekretärin an und bat
sie, Miriam Voss auszurichten, dass er sich verspäten würde. Den Hörer behielt
er gleich in der Hand, während er die Nummer von Roland Strieder, dem Busfahrer
der Linie R88, hervorkramte. Er ließ es
klingeln, doch am anderen Ende meldete sich nur die Mailbox. Also versuchte er
es bei Strieders Arbeitgeber.
Die Dame bei den Stadtwerken Münster erklärte ihm in strengem und
geschäftsmäßigem Tonfall, dass es unmöglich sei, Strieder während der Fahrt
anzurufen. Gratczek könne aber seine Nummer bei ihr hinterlassen, und sie würde
dafür sorgen, dass Strieder sich meldete, sobald er an seiner Endstation in
Stadtlohn angekommen sei, in gut zwanzig Minuten.
Gratczek bedankte sich, legte auf und wartete.
Seine Gedanken rasten. Als Strieder endlich zurückrief, war seine
Vermutung längst zur Gewissheit geworden, und er brauchte nur noch die
endgültige Bestätigung.
»Herr Gratczek?«, erklang es etwas unfreundlich am anderen Ende.
»Sie wollten, dass ich Sie anrufe?«
Gratczek konnte ihn nur mit Mühe verstehen, in der Leitung war ein
lautes Rauschen.
»Was ist denn das für ein Lärm bei Ihnen? Ich kann Sie kaum
verstehen.«
»Das ist die reinste Sintflut. Hier ist gerade ein Unwetter
losgebrochen. Ist es in Münster etwa noch trocken?«
Gratczek warf einen Blick auf die Straße. Die Laternen waren
aufgeflammt, und der Himmel hatte sich verdunkelt, doch es hatte noch nicht
begonnen zu regnen.
»Na, egal«, dröhnte es durch den Hörer. »Wie kann ich Ihnen denn
helfen?«
»Es gibt da einen Punkt in Ihrer Aussage, den ich nochmals abklopfen
möchte«, begann er.
Tilmann Feth hatte ausgesagt, dass er Sandra zum Bus begleitet
hatte. Er hatte sich dort von ihr verabschiedet und war im Anschluss zur Party
seiner Kollegin gegangen. Gratczek hätte sich ohrfeigen können, dass ihm die
Unstimmigkeit nicht gleich aufgefallen war.
»Sie sagten, dass Sandra Hahnenkamp allein zum Bus gekommen ist,
richtig?«
»Ja, klar. Das stimmt.«
»Sind Sie ganz sicher? War da niemand, der sie begleitet und sich
von ihr verabschiedet hat?«
»Ich kann mich genau daran erinnern, wie sie zum Bahnhof gekommen
ist. Ich habe nämlich gedacht, was für eine schöne Frau, und dann kommt die
auch noch direkt auf meinen Bus zu. Mensch, dachte ich, was bist du für ein Glückspilz.
Sie war allein, da bin ich ganz sicher.«
»Danke. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Das war’s schon?« Strieder lachte erstaunt. »Na, wenn’s mehr nicht
braucht, um Sie glücklich zu machen …«
Er wünschte ihm einen schönen Tag, und mit seiner Stimme verschwand
auch das Unwetter im Hintergrund.
Tilmann Feth hatte gelogen. Aber weshalb? Gratczek wäre am liebsten
gleich zu ihm gefahren, doch er wollte den Termin mit Miriam Voss kein weiteres
Mal verschieben. Gleich im Anschluss daran fährst du zu Feth, sagte er sich,
und dann lässt du dir von ihm erklären, was es mit der Geschichte auf sich hat.
Sandra Hahnenkamp und Miriam Voss wohnten im Dachgeschoss eines sehr
bürgerlichen Hauses im Südviertel. Gratczek wunderte sich über das spießige
Heim, das eine abgeschlossene Haustür hatte und eine altjüngferliche
Hauswirtin, die ihn hineinließ und mit neugierigen Blicken taxierte. Wohnen so
Leute, die im Nachtleben arbeiten?, fragte er sich. Er erklomm das Treppenhaus
und betrachtete auf dem Weg nach oben die gerahmten Pferdebilder an den Wänden
und die Porzellanfiguren, die in den Zwischenetagen auf Regalen standen.
Im Dachgeschoss angekommen, öffnete ihm eine schlanke dunkelhaarige
Frau die Tür. Trotz des dicken Make-ups waren ihre Augenringe deutlich zu
erkennen. Sie verschränkte die Arme und sah ihn feindselig an. Die Sekretärin
hatte ihm bereits erzählt, dass Frau Voss bereits mit der Polizei gesprochen
habe und nun ihre Ruhe wolle.
Gratczek stutzte.
»Ich habe Sie schon einmal gesehen«, sagte er überrascht. »Sie
arbeiten in der Diskothek am Hauptbahnhof. Sie sind eine Kollegin von Tilmann
Feth.«
Sie hatte bei den anderen am Tisch gesessen, als er sich nach ihm
erkundigt hatte. Gleich neben dem Chef.
Sie sah ihn herablassend an. »Haben Sie’s auch schon erfasst?« Ihre
Stimme klang rau. »Was ist? Kommen Sie rein, oder wollen sie draußen
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