Schneetreiben
ein irres Gefühl!«
Sie wollte widersprechen. Außerdem mochte sie es nicht, nackt zu
sein. Doch dann war es ihr plötzlich egal. Sie ließ sich mitreißen von seiner
Freude und von ihrer guten Stimmung, sprang ebenfalls übers Gatter und begann,
sich die Kleidung vom Leib zu reißen. Sie stolperte über ihr Hosenbein, fiel
ins feuchte Gras und lachte. Dann rappelte sie sich auf, warf Hose und
Unterwäsche fort und erreichte die Böschung des Ufers.
Jens sprang johlend in den See. Sie zögerte eine Sekunde, dann tat
sie es ihm nach. Das kühle Wasser floss über jeden Zentimeter ihrer Haut. Sie
tauchte unter. Ihr Körper war so leicht und schwerelos, es war ein unerwartet
sinnliches Gefühl. Jenseits der Wasseroberfläche leuchtete der Sternenhimmel,
und die vielen kleinen Lichter bewegten sich in den Wellen des Sees.
Die beiden schwammen um die Wette, sie alberten herum, spritzten
sich Wasser ins Gesicht und tauchten unter. Klara fühlte sich dabei so frei und
glücklich, dass sie einfach immer weiterschwamm. Am liebsten wäre sie nie
wieder ans Ufer zurückgekehrt.
12
Nachdem Hambrock und Ingeborg ein paar Runden Karten
gespielt hatten, klingelte in der Diele das Telefon. Ingeborg lächelte
entschuldigend und ging nach nebenan, um den Anruf entgegenzunehmen. Hambrock
sah ihr nach, bis sie in der Tür verschwunden war.
Wie hat sie es nur geschafft, drei Kinder zur Welt zu bringen und so
eine Figur zu halten?, fragte er sich.
Er schob die Spielkarten zusammen und legte sie auf den Tisch, dann
stand er auf und blickte zum Fenster hinaus. Das Unwetter ließ einfach nicht
nach. Es schneite und schneite, als wollte es nie mehr aufhören. Der
Nussstrauch, der sein Laub in diesem Herbst noch nicht verloren hatte, war von
dem Gewicht des Schnees beinahe ganz zu Boden gedrückt worden. Selbst die dickeren
Äste der Kiefern bogen sich unter der Last.
»Das war Frau Kentrup«, sagte Ingeborg hinter ihm. »Sie wollte
hören, ob bei uns alles in Ordnung ist.«
Sie stellte sich neben ihn ans Fenster. »Stell dir vor, bei
Lütke-Brüning sind heute Mittag die Kühe von der Wiese getürmt. Der Elektrozaun
ist ausgefallen, er konnte dem Gewicht des Schnees nicht standhalten. Das Vieh
stand schon unten an der Straße nach Ahaus, als es jemand bemerkt hat.«
Hambrock fragte sich, weshalb ihm der Name Lütke-Brüning ein Begriff
war. Er musste ihn in irgendeinem Zusammenhang schon einmal gehört haben, doch
es wollte ihm nicht einfallen, wann.
»Sie mussten die Kühe von dort zurück zum Hof treiben. Wenn Alois
bloß etwas gesagt hätte, dann hätten Klara und ich ihm dabei helfen können.«
»Welcher Hof ist denn der von Lütke-Brüning?«
»Das ist unser direkter Nachbar.« Sie deutete aus dem Fenster. »Es
ist der Hof dort unten an der Straße, siehst du? Abgesehen von den Kühen ist ja
hier glücklicherweise nichts passiert. Frau Kemper hat erzählt, dass ihre
Schwester in Laer seit heute Mittag ohne Strom ist. Dort soll ein
Starkstrommast unter der Schneelast zusammengebrochen sein. Kannst du dir das
vorstellen?«
Plötzlich fiel es Hambrock wieder ein. Er wusste jetzt, wo er den
Namen des Bauern schon einmal gehört hatte.
»Alois Lütke-Brüning ist ein direkter Nachbar?«
»Ja, das habe ich doch gesagt. Wieso fragst du?«
Statt zu antworten, ging er zum Tisch und nahm die Liste mit den
Gästen von Jens’ Geburtstagsparty auf, die Heike ihm per E-Mail geschickt hatte. Zu
seiner Überraschung fand er dort ebenfalls den Namen Lütke-Brüning.
»Hat Alois einen Sohn, der Bertolt heißt?«, fragte er.
»Ja, ganz genau. Aber ich verstehe immer noch nicht …«
Nachdenklich betrachtete er die Lichter der Bauernhofs, die in der
Dämmerung leuchteten.
»Ich glaube, ich habe etwas zu erledigen«, sagte er. »Ich sollte
deinem Nachbarn einen kurzen Besuch abstatten. Wenn du möchtest, kannst du mich
begleiten. Es ist zwar nicht ganz vorschriftsmäßig, aber die Bedingungen hier draußen
sind ja auch alles andere als gewöhnlich. Es wird mir schon keiner einen Strick
daraus drehen, wenn ich dich zu einer Befragung mitnehme.«
»Ach was, geh ruhig allein. Ich werde besser mal nachsehen, was die
Kinder oben machen. Von denen haben wir schon lange nichts mehr gehört, und das
ist nie ein gutes Zeichen. Außerdem muss ich mich ein bisschen um Sindbad
kümmern. Der Ärmste wird momentan völlig vernachlässigt.«
Er begriff, dass Ingeborg sich ebenfalls die Zeit stahl, die sie
gemeinsam mit ihm verbrachte.
»Also,
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