Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
Vom Netzwerk:
worauf wartest du noch?«, fragte sie. »Schwing dich auf dein
Pferd, Sheriff.«
    Der Hof der Lütke-Brünings war zwar keine hundert Meter
entfernt, dennoch kostete es Hambrock einige Kraft, dorthin zu gelangen. Mit
jedem Schritt versank er tief im Schnee, gleichzeitig zerrte der Sturm an ihm
und bombardierte ihn mit Flocken, die an seiner Jacke hafteten. Meter für Meter
arbeitete er sich voran, bis er endlich am Hauseingang stand. Er suchte
vergeblich nach einer Klingel. Ein gusseiserner Türklopfer prangte an der
Eichentür. Er hatte die Form eines Löwenkopfes, der einen Ring im Maul hielt.
Als er diesen gegen die metallische Fläche schlug, ertönte ein dumpfer Laut.
Wann hatte er zum letzten Mal so ein Ding betätigt? Konnte überhaupt jemand im Haus
das Geräusch gehört haben?
    Er wartete. Gerade als er beschloss, über die Tenne zu gehen,
öffnete sich die schwere Tür, und ein kräftig gebauter Mittzwanziger mit
blassem Gesicht und feuerroten Haaren erschien auf der Schwelle. Er trug
schmutzige Arbeitskleidung, und aus seinen löchrigen Wollsocken ragte ein
weißer Zeh.
    »Bertolt Lütke-Brüning?«
    Der junge Mann nickte.
    »Mein Name ist Bernhard Hambrock. Ich bin von der Münsteraner
Kriminalpolizei, wir untersuchen den Mordfall Sandra Hahnenkamp. Ich würde gern
kurz mit Ihnen und mit Ihrem Vater sprechen, wenn das möglich ist. Es geht um
die Tatnacht, und da müssen wir mit allen in der Bauernschaft reden. Störe ich
gerade?«
    Bertolt Lütke-Brüning schien verblüfft. »Bei diesem Wetter sind Sie
unterwegs und befragen die Leute? Haben Sie Schneepflüge bei der Polizei?«
    Hambrock lachte. »Nein, ganz im Gegenteil. Ich sitze oben bei den
Merschkötters fest. Das Wetterchaos hat mich überrascht, als ich gerade dort
war, und jetzt schlage ich die Zeit tot.«
    »Wenn das so ist …« Er trat
zur Seite. »Kommen Sie herein. Aber ziehen Sie bitte die Schuhe aus.«
    Hambrock ließ seine Schuhe an der Tür stehen und folgte ihm auf
Socken durch die Diele. Der große Raum wirkte wie ein Museum. Wertvolle Truhen
standen an der Wand und alte Bauernschränke mit kunstvollen Schnitzereien. Das
Herdfeuer war umgeben von blauweiß bemalten Kacheln, wie sie früher auf
wohlhabenden Höfen üblich gewesen waren. Alles war ordentlich und gut gepflegt.
Dennoch schien die Zeit vor Ewigkeiten stehengeblieben zu sein.
    »Sie kommen zu einem günstigen Zeitpunkt«, sagte Bertolt
Lütke-Brüning. »Wir trinken gerade den Nachmittagskaffee. Deshalb erreichen Sie
uns auch im Haus.«
    Er führte Hambrock in die Küche, einen riesigen Raum, der leer und
unwohnlich wirkte. Die Schränke und Regale waren lieblos angebracht, an den
Wänden über den Arbeitsflächen klebten billige Fliesen, und auf dem Tisch lag
eine Wachsdecke, deren grellrote Farbe sich mit der Tapete stach. Auch wenn
Ingeborg vorher nichts gesagt hätte, spätestens jetzt wäre Hambrock klar
gewesen, dass es in diesem Haushalt keine Frau gab. Mechthild Lütke-Brüning war
vor Jahren gestorben, und Bertolt war mit seinen neunundzwanzig Jahren noch
immer unverheiratet.
    Früher wäre der Jungbauer eine gute Partie gewesen, dachte Hambrock.
Die Frauen im heiratsfähigen Alter hätten sich um ihn gerissen. Doch es hatte
sich viel verändert. Heute interessierte sich keine mehr für ihn und seinen
Hof. Im Gegenteil, die viele Arbeit schreckte die meisten ab. Darüber hinaus
war Bertolt alles andere als attraktiv. Welche Frau wollte noch ein solches
Leben?
    Hambrock trat in die Küche. Am Tisch saß der alte Bauer, der trotz
seines Alters noch viel Kraft ausstrahlte. Vor ihm stand abgepacktes Brot und
eingeschweißter Aufschnitt aus dem Supermarkt. Mit langsamen und sorgfältigen
Bewegungen schmierte er sich eine Scheibe.
    »Vater, das ist Herr Hambrock, er ist von der Polizei.«
    »Hambrock …« Der alte Bauer
blickte ihn nachdenklich an. »Sind Sie hier aus der Gegend?«
    »Ja, aus Vennhues. Mein Vater hatte dort früher einen Hof, doch er
ist jetzt im Ruhestand.«
    Sein Gesicht hellte sich auf. »Bernhard Hambrock aus Vennhues!
Natürlich. Dein Vater hatte Sauen, richtig? Sauen und Ferkelmast.«
    Hambrock lächelte. »Das stimmt.«
    Das war typisch, sein Vater war genauso. Der kannte auch jeden Hof
im Umkreis von dreißig Kilometern, und wenn er auch nichts Privates über den
Bauern und seine Familie sagen konnte, so wusste er zumindest, welche
Viehwirtschaft dort betrieben wurde.
    »Setz dich«, sagte Lütke-Brüning senior. »Du trinkst doch einen
Kaffee

Weitere Kostenlose Bücher