Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
erst das lange Schweigen, das ihrer Antwort folgte, brachte sie auf die Idee, dass er verletzt sein könnte.
»Es ist nicht so, dass ich keinen Appetit hätte«, beeilte sie sich, die Sache ein wenig abzumildern. »Aber … ich muss noch mal weg.«
»Weg? Wohin denn?«, fragte Lübke.
»Ist was Dienstliches.«
»Hm«, machte er, doch es klang nicht überzeugt. »Pass auf dich auf.«
»Klar«, sagte Winnie, während ihre Augen unwillkürlich die Waffe suchten, die sie auf dem Tisch abgelegt hatte. »Mach ich doch immer.«
Sie unterbrach die Verbindung, warf das Telefon auf den Tisch und druckte Lübkes restaurierten Briefbogen aus. Anschließend nahm sie sich noch einmal die Liste vor, die Felicia Ott ihr mitgegeben hatte – und siehe da! Da stand es! Ganz am Ende:
»Mario???«
Winnie klatschte triumphierend in die Hände. Na, das war doch mal was! Endlich so was wie ein Ansatzpunkt! Ein gemeinsamer Nenner. Etwas, das Ackermann verband mit den Kreisen, in denen sich Boris Mang aller Wahrscheinlichkeit nach bewegt hatte.
MARIO BELTING . BÜRO DER STAATSANWALTSCHAFT .
Winnies Kugelschreiber klopfte rhythmisch auf die Tischplatte, während sie nachdachte. Ein Eliteklub. Ein Haufen korrupter Bullen, Richter, Staatsanwälte. Und ein Exmitglied, das aufgrund einer Demenzerkrankung allmählich den Verstand verliert. Nicht aber seine Erinnerungen. Zumindest nicht alle. Jemand, dessen Wissen brandgefährlich werden könnte und auf den man schon allein aus diesem Grund ein Auge haben muss …
Winnie warf den Stift beiseite und vergrub den Kopf in den Händen, während andere Bilder hinter ihrer Stirn Gestalt annahmen: eine Familie, die – wie so oft – beim Ausbruch einer schweren Krankheit eiligst einen Schritt zurücktritt. Und auf der anderen Seite eine Gruppe von Freunden, die den dementen Exkollegen besuchen. Die ihm regelmäßig eine Schachtel seiner Lieblingspralinen mitbringen und ein bisschen mit ihm plaudern, weil sie sehen wollen, wie weit die Gefahr bereits gediehen ist. Und mitten unter ihnen …
Winnie richtete sich auf und starrte auf den zerknitterten Zettel vor sich.
Und mitten unter ihnen KARL GROVIUS .
Verhoevens Gott …
11
»Hendrik?«
»Ja?«
»Was machst du hier im Dunkeln?«
Verhoeven seufzte. »Es ist nicht dunkel. Das Feuer brennt.« Er zeigte zum Kamin, wo ein gemütliches, wenn auch ziemlich heruntergebranntes Feuer vor sich hin glühte.
Seine Frau zog ihre sorgfältig gezupften Brauen zusammen, bis sie eine durchgängige Linie ergaben. »Möchtest du allein sein?«
Er wandte den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Na toll, dann weiß ich ja jetzt genau, wie ich mich verhalten soll.«
Er sah sie an. »Komm her.«
Sie kam quer durch den Raum und setzte sich neben ihn. »Was bedrückt dich?«
»Ich weiß nicht.«
»Ist es wegen Nina?«
»Nein. … Das heißt, auch. … Ich bin nicht sicher.«
Silvie nickte. Von Natur war sie ein Mensch, der kämpfte. Immer und überall. Für ihr Recht. Für anderer Leute Recht. Gegen falsche Erwartungen. Gegen falsche Vorwür fe. Aber eines hatte er an ihr stets besonders geschätzt: Wenn es drauf ankam, wenn ein Mensch, der ihr wichtig war, mal richtig im Regen stand, legte sie die Waffen beiseite und war da. Einfach nur da.
So auch jetzt.
»Kann ich irgendwas tun?«, fragte sie, indem sie ihm sanft den Arm um die Schultern legte.
»Tust du doch.«
»Was denn?«
»Du kümmerst dich um die Kinder, um die Arzttermine der Kinder, um das Haus, die Rechnungen, die …«
»Das meine ich nicht. Und das weißt du.«
Verhoeven lächelte. Bei allem schlechten Gewissen, das ihr Mut und ihre manchmal fast beängstigende Belastbarkeit ihm bisweilen vermittelten, schaffte sie es doch auch immer, ihm ein Lächeln zu entlocken. Ein Lächeln über sich selbst, etwas, das ihm von Haus aus schwerfiel. »Ich fürchte, ich bin mit mir selbst nicht im Reinen.«
»Oje, das ist das Schlimmste von allem.«
»Ich weiß.«
»Und weswegen bist du nicht im Reinen mit dir?«
Die Frage lag nahe, und er hatte sie erwartet. Trotzdem wusste er keine Antwort darauf. »Ich habe das Gefühl, dass ich zu langsam bin«, sagte er hölzern, »zu … Ach, ich weiß nicht. Zu unentschlossen vielleicht auch. Und dass ich viel zu viel versäume.«
Sie blickte ihn ruhig an und wartete.
Doch er fand keine Worte, die irgendetwas erklärt hätten.
»Wird Jan dir zu viel?«, fragte seine Frau nach einer Weile.
»Nein«, sagte er, und das meinte er wirklich so.
»Es ist nicht
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