Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
geirrt?
Irritiert ließ Winnie die Waffe sinken. Sie hatte fast verschlafen an diesem Morgen. Hatte nicht mal Zeit gehabt, sich ein Brot zu machen. Nur eine Tasse Kaffee beim Anziehen. Ihre Augen wanderten zur Spüle, wo die Filtertüte von gestern lag, die sie am Morgen aus ihrer Kaffeemaschine gefischt hatte und die bei der Aktion zerrissen war. Kein Zweifel, sie war in Eile gewesen. Sie lächelte. Bei all den Schauergeschichten von Geheimgesellschaften und Gestapo, zu Tode gestürzten Heimbewohnerinnen und gefolterten Pflegern sah sie doch tatsächlich schon Gespenster!
Erleichtert kehrte sie zur Tür zurück und holte ihre Tasche mitsamt der Post, die sie auf den großen runden Tisch knallte, der ihr als Ess- und Arbeitsplatz zugleich diente. Dann nahm sie sich eine Packung Fertigfrikadellen aus dem Kühlschrank und setzte sich vor ihr Aquarium, um wenigstens ein paar Minuten abzuschalten, bevor sie sich wieder über Hinnrichs’ Akten beugte. Doch sie hatte sich kaum niedergelassen, als ihr Telefon zu klingeln begann.
»Hey«, sagte Lübke, nachdem sie an den Apparat gegangen war. »Alles klar?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete sie zerstreut.
»Hä? Wie kannst du nicht wissen …«
»Scheiße!«, fiel sie ihm ins Wort. »Was ist das denn?«
»Was?«
»Annabelle ist nicht da.«
Wenigstens wusste Lübke nach ihrem gemeinsamen Essen, wovon sie sprach. »Was soll das heißen, sie ist nicht da?«, fragte er.
Doch Winnie antwortete nicht. Stattdessen umrundete sie ihr Aquarium ein weiteres Mal.
»Hallo?«, beschwerte sich Lübke. »Jemand zu Hause?«
»Nicht da heißt nicht da, verdammt.«
»Vielleicht hat sie sich versteckt. Fische sind so.«
»Dieser nicht«, gab Winnie zurück. Und in Gedanken fügte sie hinzu: Außerdem riecht es in meiner Bude nach irgendwas Fremdem …
Oder fing sie an, paranoid zu werden?
»Warte mal kurz.« Sie legte das Telefon zur Seite und hob die Abdeckung ihres Aquariums ab. Dann überprüfte sie alle möglichen Verstecke. Die Mangrovenwurzel. Das Algendickicht. Den Raum zwischen Filter, Pumpe und Glas. Ihre Mitbewohner quittierten die Aktion mit wildem Durcheinander. Sogar der sonst so gelassene Papageno stob aufgeregt umher. Doch Annabelle blieb verschwunden.
Zutiefst irritiert zog Winnie ihren Arm aus dem Becken und schüttelte das Wasser ab.
Aus dem Telefon drang mit unverminderter Wucht Lübkes Geschimpfe. Außerdem klang er inzwischen ernsthaft besorgt. »Hast du ein Problem?«
Ich weiß es nicht,
entgegnete Winnie stumm, doch wenn sie das sagte, war klar, was passieren würde. Und das Letzte, was sie im Augenblick brauchen konnte, war ein alarmierter Lübke, der in ihrem Apartment auflief und sie vom Arbeiten abhielt, weil er glaubte, sie beschützen zu müssen.
»Nein, alles in Ordnung«, sagte sie eilig. »Ich habe mich getäuscht.«
»Das heißt, der verdammte Fisch ist wiederaufgetaucht?«
Winnie biss sich auf die Lippen. Sie hasste es, ihn anzulügen. Aber in diesem Fall ging es nicht anders. Nicht, solange sie selbst noch keine Erklärung hatte für das, was hier vorging. »Ja, sie ist da. Alles bestens.«
Lübke brummte irgendwas Unverständliches vor sich hin.
»Hör zu …« Winnie nahm den Hörer in die andere Hand. »Ich hatte einen ziemlich harten Tag und bin eben erst rein.«
»Hm«, machte Lübke. »Wie läuft denn der Job in diesem Heim?«
»Dieses verdammte Bettenmachen bringt mich um«, scherzte sie, froh, dass er sich auf diese Weise ablenken ließ. »Aber ansonsten habe ich noch Welpenbonus.«
Er lachte.
»Und bei dir?«
»Meinst du privat oder beruflich?«
»Spinner!«
»Okay, das lasse ich jetzt einfach mal so stehen.« Er schnaufte. Aber im Gegensatz zu früheren Zeiten klang es nicht verschlackt, sondern vergnügt.
Winnie sah auf die Uhr. »Aber du rufst mich doch nicht um diese Uhrzeit an, um mich zu fragen, wie mein Tag war.«
»Wieso nicht?«
Grrrrrr!
»Na schön, du hast recht. Ich hab hier was, das dich vielleicht interessieren könnte.«
Winnie horchte auf. »Was denn?«, fragte sie begierig.
»Immer schön der Reihe nach«, entgegnete Lübke, der es schon immer geliebt hatte, sie auf die Folter zu spannen. »Zunächst kann ich dir verraten, dass der Müll vom Friedhof uns erwartungsgemäß keinen Deut weitergebracht hat, was die Frage nach dem Täter angeht. Ebenso wenig wie die verdammte Gießkanne. Außer, dass überall an der Tülle Gewebe von Ackermann ist.«
Vor Winnies innerem Auge blitzte für ein paar
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