Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
du schlecht geträumt?«
Verhoeven sah ihre kleinen Hände, deren zarte Knöchel weiß hervortraten, weil sie die Decke so krampfhaft umklammert hielt. Aber noch immer sagte sie keinen Ton.
»Bitte«, startete er einen hilflosen neuen Versuch. »Du musst mit mir über die Dinge sprechen, die dich bedrücken.«
»Wieso?«
Verhoeven musste gegen seinen Willen lächeln, auch wenn ihm bewusst war, wie unpassend das auf seine Tochter wirken musste. Aber diese Art von Reaktion war so typisch für sie! Andere Kinder hätten einfach »Nein« oder »Lass mich in Ruhe« gesagt, dachte er mit einem Anflug von Stolz. Aber sie fragte: »Wieso?«
»Weil ich glaube, dass es dabei um etwas geht, das wir beide erlebt haben. Und weil es hilft, darüber zu reden.«
Sie biss noch immer die Lippen aufeinander, aber sie sah ihn an. Immerhin.
»Hast du Angst?«
Ja, sagten ihre Augen. Aber sie sprach es nicht aus. Stattdessen gab sie die Frage zurück: »Hast
du
Angst?«
Verhoeven wusste, dass viel von seiner Antwort abhängen würde. Davon, ob er zugab, was er fühlte. Oder eben nicht. Aber genau hierin bestand der Konflikt. In seiner Vorstellung hatte ein Vater keine Angst zu zeigen. Mehr noch: Ein Vater hatte der Fels zu sein, auf den seine Kinder vertrauen konnten. Jemand, der immer und in jeder Situation unerschütterlich blieb, konstant, damit sie, die Kinder, unbeschwert sein konnten. Doch sosehr Verhoeven nach wie vor an seiner Idealvorstellung der Vaterrolle hing – er war nicht sicher, ob sie in diesem speziellen Fall die richtige Strategie war. Hatte denn nicht Damian Kender bereits gründlich mit seiner Illusion vom starken, unerschütterlichen Vater aufgeräumt? Hatte er nicht längst den Beweis erbracht, dass auch Väter in gewissen Situationen allen Grund hatten, sich zu fürchten?
Verhoeven wusste keine Antwort. Also nickte er, ohne voraussagen zu können, ob er damit nicht alles noch schlimmer machte. »Ja, ich habe auch hin und wieder Angst.«
»Und wovor?«, fragte Nina.
Gütiger Himmel, sie war sechs! Ein kleines Kind. Sie ging noch nicht einmal zur Schule. Wie sollte er ihr da erklären, wovor er Angst hatte?
Verhoeven schluckte. »Vor vielem.«
Na, Gratulation! Ganz tolle Antwort! Das suggeriert ihr bestimmt, dass die Welt ein wunderbar heiler und sicherer Ort ist!
Seine Tochter betrachtete ihn mit einer Mischung aus Strenge und Misstrauen. Strenge, weil seine Antwort so allgemein ausgefallen war. Misstrauen, weil sie spürte, dass mehr dahintersteckte. Allerdings – und das war das Bemerkenswerte daran – schien es sie auch nicht besonders zu überraschen, dass ihr Vater sich fürchtete. Etwas, das Verhoeven trotz allem, was im Sommer geschehen war, nicht erwartet hätte.
»Und du?«, fragte er hastig, um sie von sich abzulenken. »Wovor fürchtest du dich?«
Zögern. Dann ein zaghaftes: »Dass er zurückkommt.«
»Wer?«, fragte Verhoeven, obwohl er die Antwort nur zu gut kannte.
Nina blickte sich ängstlich um. »Der Mann.«
Er nickte. Er hatte ihr Damian Kenders Namen nie verraten. Schlimm genug, dass dieser Scheißkerl sich überhaupt in ihr Leben gedrängt hatte. Dass er es gewagt hatte, seiner kleinen Tochter das Gefühl zu geben, dass man nirgendwo auf dieser Welt wirklich sicher sein konnte. Nicht mal in dem, was man gemeinhin Zuhause nennt. Verhoeven tastete nach seinem Magen, in dem ein zentnerschweres Gewicht zu lasten schien. Damian Kenders Gesicht und die schrecklichen Erlebnisse jener Nacht hatten sich tief in Ninas Erinnerung gebrannt und würden dort vermutlich bis ans Ende aller Tage bleiben. Da musste das Monster nicht auch noch einen Namen haben.
Der Mann …
Verhoeven atmete tief durch, während sich von irgendwoher ein alter Kinderreim in seine Gedanken schlich:
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?
War die Antwort auf diese Frage nicht immer »Niiiiiemand!« gewesen, damals, auf der Straße, in den Hinterhöfen seiner Kindheit? Aber das war ein Spiel gewesen, nur ein dummes, unbedeutendes Spiel.
Er sah seiner Tochter in die großen braunen Augen und sagte: »Keine Sorge. Er wird nicht zurückkommen.«
»Sicher nicht?«
Nein, dachte Verhoeven. Leider bin ich da keineswegs sicher …
Es wunderte ihn, aber auch in dieser prekären Situation musste er plötzlich wieder an Schmitz denken, jenen Mann, der ihn – wie man das so schön ausdrückte – großgezogen und dessen Prügel und Demütigungen seine Kindheit und Jugend bestimmt hatten. Während all dieser Jahre in
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