Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
weggesperrt zum Schutz der Menschen, die er so tief verachtet. Verhoeven schloss die Augen und sah das Gesicht des Serienvergewaltigers vor sich. Kenders Lächeln, die selbstbewusste Ruhe, als er auf Verhoevens Weigerung, seine Waffe fortzuwerfen, geantwortet hatte: »Sie werden lachen, aber Ihr Wort genügt mir.«
Das Schlimme war, dass Kender tatsächlich recht behalten hatte.
Er hatte tatsächlich nicht geschossen. Er hatte sich um seine bewusstlose Frau gekümmert. Danach um seine Tochter. Anschließend um einen Krankenwagen. Und erst dann, nach der Ewigkeit von zwei oder drei Minuten, um den flüchtigen Vergewaltiger.
Du hast ihn laufen lassen.
Du hast dich um deine Familie gekümmert, hast erst einmal deine Schäfchen ins Trockene gebracht. Obwohl du wusstest, was Kender mit den Frauen anstellt, die ihm in die Hände fallen. Also mach dir nichts vor! Für jede Frau, die Kender seit damals vergewaltigt hat, und für jede Frau, die er noch schänden wird, trägst du die Verantwortung.
Du ganz allein …
»Hendrik?«
Verhoeven öffnete die Augen und sah seiner Frau ins Gesicht, obwohl er sich am liebsten in den letzten Winkel des Hauses verkrochen hätte. »Ja?«
»Bleib heute daheim.« Ihre Miene war eindringlich und von tiefer Sorge umwölkt. »Jeder kann mal krank werden. Und du bist immer da.«
»Das geht nicht«, sagte er und stand auf.
»Ich habe Angst.« Ihre Stimme zitterte.
Ja, dachte er, wir haben alle Angst. Laut sagte er: »Bis nachher.«
Dann ging er wortlos aus der Küche, nahm seinen Mantel, stopfte Fahrzeugpapiere und Führerschein in die Tasche und verließ das Haus.
2
Winnie Heller fühlte sich wie gerädert. Sie hatte die ganze Nacht über den Akten gebrütet. Berichte gelesen, Befunde, Protokolle. Ein schieres Unmaß an Material, vieles davon so alt, dass es ihr wie aus einer anderen Welt vorkam. Doch den erhofften Durchbruch hatte es nicht gebracht. Was den Unfall selbst betraf, hatte Winnie sich eine Reihe von Namen notiert, wer als Erstes am Unfallort gewesen war, welches Team den Unfall bearbeitet hatte, wer für die Sicherung der Spuren zuständig gewesen war. Aber das alles war bestenfalls ein Schuss ins Blaue. Und die Berichte, die Alexander Brieden in den Wochen vor seinem Tod geschrieben hatte, waren leider auch nicht viel ergiebiger gewesen. Zwar enthielten sie den einen oder anderen Hinweis auf Örtlichkeiten, Treffpunkte, an denen sich der ertrunkene Kriminalbeamte mit seinem Informanten verabredet hatte, aber weder der Klarname des mysteriösen »Jerry« wurde enthüllt, noch gab es Andeutungen über den Inhalt der Unterredungen.
Die vielversprechendste Spur waren ein paar Namen, die in Alexander Briedens Berichten immer wieder auftauchten. Pseudonyme, genau wie jene, die Joachim Ackermann auf seinem Schreibblock notiert hatte.
Iota trifft Hidalgo im Blues. Hesperus eventuell bereit, gegen I. auszusagen. Zeugenschutzprogramm obligat.
Und so weiter und so fort.
Winnie hatte sich eine Liste gemacht, ohne zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Mal ganz abgesehen davon, dass der Job in Tannengrund ihr nicht genug Zeit lassen würde, sich auch nur annähernd systematisch damit auseinanderzusetzen. Umso genervter trat sie an diesem Morgen ihren Dienst an. Mehr noch: Am liebsten wäre sie auf der Stelle zu Hinnrichs marschiert, um ihm zu sagen, dass sie in dem Altersheim ihrer Meinung nach nur ihre Zeit vergeudete. Aber sie konnte es sich nicht leisten, Hinnrichs zu verprellen. Sie brauchte seine Unterstützung für das, was sie vorhatte. Daran führte kein Weg vorbei.
Seufzend nahm sie eine Flasche Heilwasser von ihrem Versorgungswagen und klopfte an die Tür zu Elisabeth Ferstens Zimmer.
Ein ungewohnt zaghaftes »Kommen Sie rein« war die Antwort.
»Tag, Frau Fersten«, sagte Winnie, indem sie die Tür hinter sich zuzog. »Was macht Ihre Hüfte?«
»Ja, ja, geht schon«, murmelte die alte Dame, ohne aufzublicken. Sie schien tief in Gedanken versunken.
Winnie runzelte die Stirn, stellte das Wasser ab und verrichtete dann stumm ihre üblichen Arbeiten. »Alles klar bei Ihnen?«, fragte sie, als sie fertig war.
Elisabeth Fersten sah hoch und schien einen Moment zu überlegen. Dann sagte sie: »Nein, eigentlich nicht.«
Überrascht legte Winnie den Stift beiseite, den sie bereits in der Hand hielt, um Elisabeth Ferstens Essenswünsche zu notieren, und lehnte sich gegen das Fußende des Bettes. »Kann ich irgendwie helfen?«
»Nein. Ich bin nur nicht sicher, wie
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