Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
hoch und trat an eines der beiden hohen Fenster. Winnie tat es ihr gleich.
»Sehen Sie die Auffahrt da hinten?«
»Ja.«
»Die beiden waren unter den Bäumen dort, als ich sie bemerkte.« Ihr arthritischer Zeigefinger bezeichnete eine Stelle etwa hundertfünfzig Meter entfernt. »Und dann verschwanden sie durch das Haupttor.«
»Könnten Sie sie beschreiben?«
Die alte Dame schenkte ihr einen mitleidigen Blick. »Machen Sie Witze? Es war dunkel, ich bin dreiundachtzig, und bei diesem Sauwetter sehen doch alle aus wie geklont. Dunkle Jacken, dunkle Hosen, dunkle Mützen.«
Winnie nickte und griff in die Tasche ihrer geliehenen Hose. »Sagen Sie, sind Sie diesem Mann hier zufällig schon mal begegnet?«
Elisabeth Fersten rückte ihre Brille zurecht und betrachtete die Aufnahme, die kurz vor Joachim Ackermanns Haftentlassung entstanden war. Sie zeigte den Pfleger mit ernster, fast feierlicher Miene vor einer hellgraugestrichenen Wand.
»Nein«, sagte Elisabeth Fersten nach einer Weile. »Ich bin sicher, dass ich ihn noch nie im Leben gesehen habe. Wer ist das?«
»Ein Mann, der Freitagnacht hier ganz in der Nähe gestorben ist.« Winnie nahm das Foto wieder an sich.
»Gestorben?«
»Ja, er wurde ermordet.«
Die alte Dame fuhr sich mit energischen Bewegungen durch ihr graues Kurzhaar. »Sie sind keine Pflegerin, oder?«
»Nein«, entschied sich Winnie kurzerhand für die Wahrheit, auch wenn sie nicht wusste, was Hinnrichs davon halten würde, dass sie hier gerade ihr Inkognito aufhob. »Ich bin bei der Polizei.«
»So, so.« Elisabeth Fersten schürzte die Lippen, während sie diese neue Information verarbeitete. Dann sah sie plötzlich hoch und fragte ganz direkt: »Wurde Ilse auch ermordet?«
»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Winnie ehrlich. »Aber um das herauszufinden, bin ich hier.« Unter anderem, ergänzte sie in Gedanken.
»Verdammt.« Die alte Dame sah wütend aus. »Auch wenn es mich auf der anderen Seite fast erleichtert.«
Winnie sah sie fragend an.
»Ach«, winkte Elisabeth Fersten ab. »Das ist wohl eine Marotte von uns Wissenschaftlern. Aber alles, was nicht logisch ist, macht uns irrsinnig nervös.«
Oh ja, diese Marotte kenne ich, dachte Winnie.
Die alte Dame schien derweil einen Entschluss gefasst zu haben, denn sie sagte – nun wieder mit der gewohnten Forschheit –: »Da ist noch was, das Sie wissen sollten …«
»Ja?«, fragte Winnie erwartungsvoll.
»Kurz nachdem ich diese beiden Männer gesehen hatte, neulich Nacht, habe ich Schritte gehört.«
»Sie meinen …« Winnie starrte sie an, ärgerlich, dass sie nicht selbst auf diese Idee gekommen war. Zum Teufel mit der Logik!
»Wenn ich diese Leute auf dem Rückweg zum Tor gesehen habe, dann müssen sie ja wohl einen Grund gehabt haben, herzukommen«, fasste Elisabeth Fersten unterdessen in Worte, was Winnie soeben selbst entdeckt hatte und was sich bei näherer Betrachtung als echter Knüller erwies: Wer auch immer Joachim Ackermann ermordet hatte – er hatte nur wenige Minuten danach Kontakt zu einer Person in der Residenz Tannengrund aufgenommen …
3
»Es scheint da tatsächlich so was wie einen Mittelsmann zu geben«, berichtete Winnie kurz darauf Oskar Bredeney am Telefon. Sie hatte eigentlich mit Verhoeven sprechen wollen, doch der war unterwegs. Also nahm sie mit dem vorlieb, was sie kriegen konnte. »Jemand, der in Tannengrund lebt oder arbeitet und der zu Ackermanns Mördern Kontakt hatte.«
»Sofern die beiden Personen, die deine Zeugin gesehen hat, tatsächlich mit der Tat auf dem Friedhof zu tun haben«, gab der Veteran des KK 11 zu bedenken.
»Natürlich haben sie das«, fuhr Winnie auf. »Wer sonst sollte mitten in der Nacht ein Altenheim betreten und es kurz darauf wieder verlassen?«
»Oh, da fielen mir aber eine ganze Reihe von Möglichkeiten ein.«
»Ach ja?«
»Vielleicht hatte jemand vom Personal während der Nachtschicht ein Stelldichein.«
»Mit zwei Männern?«
»Warum nicht? Oder einer von den Bewohnern hatte Besuch.« Er räusperte sich. »Vergiss nicht, dass Tannengrund eine Seniorenresidenz ist und kein Knast.«
Winnie starrte die Tür ihres Spinds an.
»Die Bewohner sind alt, aber sie sind mündige Menschen«, sagte Bredeney, der offenbar das Gefühl hatte, noch nachlegen zu müssen. »Sie zahlen eine Menge Geld dafür, dort zu wohnen, und können empfangen, wann und wen sie wollen. Und was in gewissen Nachtschichten so abgeht, möchtest du gar nicht erst wissen.«
»Aber es
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