Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Fraß vor, die sowieso glauben, dass eine wie Sie hier nichts verloren hat.«
Der letzte Satz traf Winnie wie der sprichwörtliche Tritt in die Kniekehle. »Wer glaubt das?«, stieß sie hervor.
»Das spielt doch überhaupt keine Rolle.«
Oh doch, dachte sie in helllichter Empörung, das spielt eine Rolle, verdammt noch mal!
Eine wie Sie …
Sie hätte Hinnrichs am liebsten auf der Stelle festgenagelt, bis er damit herausrückte, aber sie spürte, dass sie keine Chance hatte. »Kann ich …«, startete sie einen letzten zaghaften Versuch.
»Nein«, gab Hinnrichs unmissverständlich deutlich zurück, »können Sie nicht!«
Irgendwie schaffte sie es, sich auf dem Weg von seinem Büro bis zu ihrem Schreibtisch wieder so weit in den Griff zu kriegen, dass sie den anderen unter die Augen treten konnte. Verhoeven war ohnehin schon auf dem Weg nach Tannengrund. Und auch von Bredeney und Werneuchen war nichts zu sehen.
Winnie ließ sich auf ihren viel zu großen Drehstuhl fallen und streckte resigniert die Beine von sich. Da hatte dieser Idiot von einem Verkehrspolizisten doch tatsächlich Anzeige erstattet! Sie schüttelte den Kopf. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, ausgerechnet jetzt so in Ungnade zu fallen, wo sie … Ihre stumme Tirade geriet unvermittelt ins Stocken, als ihr Blick auf ihren Postkorb fiel, und nur mit Mühe gelang es ihr, nicht laut zu schreien. Sie war wirklich nicht gerade zimperlich, aber das, was sie dort sah, erschreckte sie trotz seiner vordergründigen Banalität bis ins Mark: Dort in ihrem Postkorb, mitten auf einem Stapel Berichte, lag Annabelle!
Zumindest glaubte sie, dass es Annabelle war.
Der Fisch war der Länge nach aufgeschlitzt worden. In der bleichen, leicht gezackten Wunde schimmerten bläuliche Eingeweidestränge. Winnie wusste genau, es war Einbildung, und doch glaubte sie ein paar Augenblicke lang, auch einen leichten Verwesungsgeruch wahrzunehmen. Zugleich hatte sie das bizarre Gefühl, mitten in einem schlechten Film zu sein.
Ihre Gedanken sprangen wild hin und her. Wie lange lag der kleine Kadaver schon da, auf ihrer Post? Oder besser: Wie lange
konnte
er schon dort liegen? Vom Dienst aus war sie direkt zu Dorothea Zieser gefahren. Und von dort ins Präsidium. Aber war sie an ihrem Schreibtisch gewesen? Sie schloss die Augen, um den toten Fisch nicht länger ansehen zu müssen, und ließ die vergangene Stunde Revue passieren. Doch, ja. Sie war hier gewesen. Allerdings nicht lange. Konnte es sein, dass sie das makabre Geschenk einfach übersehen hatte? Oder war es eben erst platziert worden? In diesen wenigen Minuten, als sie bei Hinnrichs im Büro gewesen war?
Sie zuckte erschrocken zusammen, als in diesem Augenblick das Telefon zu klingeln begann. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Hörer, während die Bedeutung ihrer Entdeckung nach und nach in ihr Bewusstsein sickerte.
Du hast dich nicht geirrt, was das Schloss und den seltsamen Geruch in deinem Apartment angeht. Irgendjemand ist gestern Abend in deiner Wohnung gewesen. Er hat dein Zuhause betreten. Den einzigen Ort, wo du so sein kannst, wie du wirklich bist. Den einzigen Platz, der wirklich sicher ist …
Nein, korrigierte sie sich in Gedanken, nicht ist. War …
Sie schluckte. »Ja?«
»Winnie?«
Oh nein! Nicht das auch noch! Nicht ausgerechnet jetzt!
»Was willst du?«, fragte sie unmissverständlich ablehnend. »Woher hast du diese Nummer?«
»Es ist … Ich habe …«, stammelte ihre Mutter. Doch sie fasste sich schnell. »Es geht um Papa.«
»Papa ist dein Problem.«
»Ja, ich weiß.«
Überraschenderweise traf der Ton, in dem sie das sagte, Winnie mitten ins Herz. Und das, obwohl sie sich einbildete, dass sie schon seit Jahren nichts als Wut empfand, wenn sie an ihre Eltern dachte.
»Aber ich …«, fuhr ihre Mutter unterdessen fort. »Ich habe da einen wirklich sehr guten Neurologen aufgetan, weißt du. Eine absolute Koryphäe auf seinem Gebiet. Und dieser Neurologe, also Professor Schneeweis, hat die Vermutung, dass Papa vielleicht gar nicht an Alzheimer leidet.«
»Sondern?«
»Er sagt, es müssten noch eine ganze Reihe von Tests gemacht werden. Aber Papas Zustand könnte eventuell auch die Folge eines schweren Hirntraumas sein.«
»Hatte er denn einen Unfall oder so was?«, fragte Winnie, und erst als die Frage heraus war, wurde ihr klar, wie absurd sie sich vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte anhören musste.
Hatte er einen Unfall?
»Es hat nichts mit damals zu tun«,
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