Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
erklärte ihre Mutter, die offenbar die gleichen Assoziationen hatte, hastig.
Natürlich nicht, dachte Winnie. Damals ist nur meine kleine Schwester draufgegangen.
»Es muss eine andere Ursache geben.«
»Welche denn?«
»Er ist anscheinend mal schwer gestürzt oder so.«
»Hättest du das nicht gemerkt?«
Seltsamerweise schien die Frage ihre Mutter in Verlegenheit zu bringen. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie. »Es wäre schon möglich.«
Winnie hatte das beklemmende Gefühl, allmählich den Überblick zu verlieren. »Was soll das heißen, es wäre möglich?«
»Ach, weißt du, Papa ist in letzter Zeit öfter mal hingefallen. Und es … na ja, es wäre zumindest denkbar, dass er sich bei einer dieser Gelegenheiten schwerer verletzt hat, als es zunächst den Anschein hatte.«
Papa ist in letzter Zeit öfter mal hingefallen …
Was, zur Hölle, hieß das denn schon wieder? Immerhin sprachen sie hier nicht über ein tapsiges Kleinkind!
»Es geht jetzt vorrangig darum herauszufinden, welche Bereiche seines Gehirns betroffen sind«, sagte ihre Mutter, die offenbar so schnell wie möglich das Thema Unfall beenden wollte.
Winnie hakte nicht weiter nach. Nicht, um ihre Mutter zu schonen, sondern weil sie weder Kraft noch Lust hatte, sich Dinge anzuhören, die sie vermutlich gar nicht wissen wollte. »Und was hat das mit mir zu tun?«
»Ach, weißt du, Papa spricht sehr viel von früher.« Ihre Mutter war offenkundig erleichtert. »Aber es geht auch viel durcheinander, verstehst du?«
»Nein.«
»Wie viel er wirklich zuordnen kann, könnte man erst mit letzter Sicherheit sagen, wenn er … Also, Professor Schneeweis denkt, dass die Konfrontation mit dir als Tochter, also einem Menschen, den er früher kannte und lange nicht …« Sie unterbrach sich und hustete trocken. Ihre Stimme war hohl, als sie hinzufügte: »Es tut mir leid, das sollte nicht so klingen, als ob du …«
»Schon gut«, fiel Winnie ihr entnervt ins Wort. »Sag mir einfach, wann ich wohin kommen soll, okay?«
»Soll das heißen, du machst es?« Die Verblüffung ihrer Mutter war echt. »Also wirklich, Winifred, das finde ich …«
»Allerdings habe ich im Augenblick eine Ermittlung, die mich praktisch rund um die Uhr beschäftigt«, unterbrach Winnie ihre Mutter aufs Neue. Warme Worte ertrug sie von dieser Frau noch viel schlechter als alles andere!
»Das macht nichts«, beeilte sich ihre Mutter zu versichern. »Der nächste Termin ist sowieso erst Ende Januar. Und wenn …«
»Gut«, unterbrach Winnie sie ein weiteres Mal. »Wann und wo?«
Ihre Mutter kannte sie lange genug, um zu wissen, dass alle Versuche, die Unterhaltung fortzuführen, an dieser Stelle zwecklos waren. »Am 26 . Januar«, antwortete sie. »Um 10 Uhr 30 in der Uniklinik in Darmstadt.«
Winnie notierte sich den Termin. Wenn sie ehrlich war, war sie fast dankbar für die Ablenkung. »Ich sehe zu, dass ich’s einrichten kann.«
»Das ist wirklich lieb von dir«, sagte ihre Mutter, doch das nahm Winnie nur noch am Rande wahr. Sie drückte auf den Knopf mit dem roten Hörer, rammte das Telefon in die Basisstation zurück und fischte mit grimmiger Entschlossenheit eine Butterbrottüte aus der untersten Schublade ihres Schreibtischs.
Dann nahm sie das oberste Blatt ihres Berichtstapels, schüttelte den Fischkadaver hinein und verstaute das Ganze in ihrer Handtasche. Dabei glitten ihre Augen zum Schreibtisch ihres Vorgesetzten, dessen Bildschirm ihr schwarz und tot entgegengähnte.
Wenn Sie nicht mal wissen, ob Sie Ihrem eigenen Partner trauen können, dann halten Sie sich doch wohl besser zurück, oder?,
flüsterte Bredeney hinter ihrer Stirn.
Wie viel wissen wir eigentlich wirklich voneinander, er und ich?, überlegte Winnie. Wir vertrauen uns unser Leben an, aber was für ein Bild haben wir eigentlich voneinander? Ist das Wenige, was wir zu wissen glauben, am Ende nichts als pure Illusion? Täuschung? Fassade?
Papa ist in letzter Zeit öfter mal hingefallen …
Sie blickte wieder auf ihre Handtasche hinunter. Das mit Annabelle war eine Warnung, ganz klar. Aber sie war der Jetzt-erst-recht-Typ! Und wer auch immer ihr was ans Zeug flicken wollte, würde schon noch merken, dass Druck bei ihr höchstens dazu führte, dass sie ihre Anstrengungen verdoppelte. Dass sie dagegenhielt.
Entschlossen stand sie auf und machte sich auf den Weg in Werneuchens Büro.
»Ich brauche Fotos«, verkündete sie, kaum dass sie durch die Tür war.
»Fotos?« Er ließ seine Maus los
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