Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
konnte sie nichts sehen, doch dann entdeckte sie ihren Vorgesetzten mit dem Rücken zu ihr auf einer nahen Mauer sitzend.
Winnie ging auf ihn zu und erschrak fast zu Tode, als sie sah, dass er weinte. Und am liebsten wäre sie auf der Stelle wieder geflüchtet. Doch dazu war es bereits zu spät. Verhoeven hatte sie bemerkt.
In seinen Augen lag etwas, das sie nicht beschreiben konnte. Etwas, das ihr augenblicklich das Gefühl gab, sich entschuldigen zu müssen. Dafür, dass sie ihn in einem derart intimen Moment mit ihrer Anwesenheit belästigte.
Seltsamerweise war das Erste, was er sagte: »Tut mir leid.«
»Was?«, fragte Winnie und bereute es im selben Atemzug.
Doch er schien es nicht übel zu nehmen. »Ich verliere sonst nicht so schnell die Fassung.«
»Ich weiß«, hörte sie sich sagen, und so hölzern es auch klang, so aufrichtig war es gemeint.
Verhoeven nickte und wandte den Blick ab. Seine Hände sahen verfroren aus und umklammerten die Kante der Mauer, auf der er saß. Er sah eigenartig aus. Irgendwie nicht wie sonst.
Was hat er?, überlegte Winnie. War geht ihm hier gerade derart nahe? Das Heim? Die Residenz? Die alten Leute hier?
Mein Pflegevater war auch in so einem Heim …
Verwundert betrachtete sie seine fest zusammengebissenen Kiefer. Sie hatte ihn immer für zufrieden gehalten. Und wahrscheinlich war er das im Großen und Ganzen sogar. Aber da waren auch ein paar dunkle Flecken auf der weißen Fassade. Etwas, das nicht stimmte, trotz Frau und Kind und Eigenheim.
Das Böse macht vor gar nichts halt, dachte Winnie. Und ehrlich gestanden fand sie den Gedanken überhaupt nicht beruhigend.
»Kann ich irgendwas tun?«, fragte sie behutsam.
Er schüttelte den Kopf. Noch immer hatte er seine Emotionen nicht im Griff. Winnie konnte sehen, wie seine Hände zitterten. Und am liebsten wäre sie tatsächlich einfach wieder gegangen. Aber sie blieb und setzte sich neben Verhoeven auf die Mauer. Eine Handbreit kalter Stein zwischen ihnen. Und ihrer beider Atem, der weiß und rein in den Himmel stieg. Wie lange sie so dasaßen, hätte Winnie nicht sagen können. Das Einzige, was sie noch wahrnahm, war ihr eigener Herzschlag. Und die Kälte, die von allen Seiten an sie herankroch. Als lege einem jemand einen Mantel aus Eis um die Schultern.
»Ich habe ihn laufenlassen«, sagte Verhoeven nach einer halben Ewigkeit.
»Wen?«, fragte Winnie.
»Kender.« Sein Schlucken war so mühsam, als halte ihm jemand die Kehle zu. »Ich habe einen sechsfachen Vergewaltiger entkommen lassen, um meine Familie zu retten.«
»Natürlich haben Sie das. Was denn sonst?«
Seine Fußspitze malte ein imaginäres Muster auf den nassen, aber schneefreien Boden. »Ihn stellen.«
»Und Ihre Frau und das Baby opfern?«
»Aber Kender lebt.« Seine Stimme war so eindringlich, wie sie es noch nie an ihm gehört hatte. »Er lebt, und er ist irgendwo da draußen.«
»Ja«, gab sie zurück. »Genau wie viele tausend andere Monster. Psychopathen. Soziopathen. Kinderschänder. Terroristen. Mörder. Da draußen, wie Sie es ausdrücken, laufen so viele Schweine rum, dass man gar nicht erst anfangen darf, darüber nachzudenken, weil man sich sonst gleich die Kugel geben kann.« Sie zuckte die Achseln. »Manche von denen kriegen wir. Andere nicht.«
»Aber normalerweise sind wir nicht aktiv schuld, wenn wir sie nicht kriegen«, beharrte Verhoeven.
Aktiv schuld …
»Seit ich Sie kenne, haben Sie noch nie was Unkorrektes getan«, versuchte sie es anders.
Sein Lachen war erschreckend bitter. »Stimmt«, gab er ihr recht. »Ich bin ein echter Langweiler.«
Sie erschrak, weil sie genau das oft gedacht hatte. Aber jetzt, da ihr Vorgesetzter es so unverblümt aussprach, war ihr erster Impuls, ihm zu widersprechen. »Nein«, sagte sie. »Sie sind jemand, der Ordnung liebt. Das ist was anderes.«
Sie konnte sehen, wie sehr ihn ihre Worte überraschten. Wie er darüber nachdachte. Ihre These überprüfte.
»Wir können nichts als unseren Job tun, so gut es eben geht«, sagte sie. »Was wir nicht können, ist, dabei über Leichen zu gehen. Weder über die Leichen der eigenen Leute noch über andere.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich ihn hätte gehen lassen, wenn es nicht um meine Leute gegangen wäre«, erwiderte Verhoeven mit entwaffnender Ehrlichkeit.
»Aber ich«, gab sie zurück.
Und wieder las sie blankes Erstaunen in seinem Blick.
So eine hohe Meinung haben Sie von mir?
Ja, gab sie ihm im Stillen zur Antwort. Ich gebe zu, ich
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