Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
habe es selbst nicht gewusst, aber genau so denke ich.
»Aber wenn Kender es wieder tut …« Er sah sie an. »Und wir wissen beide, dass er es wieder tun wird …«
»Sie sind nicht verantwortlich für ihn«, fiel Winnie ihm ins Wort.
»Er stand mir gegenüber, und ich …« Verhoeven wandte den Blick ab und starrte auf die dunkle Erde zu seinen Füßen. »Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben, dass ich ihn nicht hindere, wenn er meine Frau gehen lässt.«
»Natürlich«, wiederholte Winnie hilflos, auch wenn ihr allmählich klar wurde, dass die Dinge nicht so einfach lagen, wie sie zunächst gedacht hatte.
Sie wusste über die Geschehnisse jener Sommernacht nur das, was sozusagen die offizielle Version war: dass Damian Kender nach seiner Entdeckung in das Haus ihres Vorgesetzten eingedrungen war. Dass er Verhoevens Frau und Tochter als Geiseln genommen hatte. Dass Verhoeven ihn auf frischer Tat ertappt hatte und Kender geflüchtet war. Dass etwas anderes passiert sein könnte als das, hatte sie zuvor nie in Erwägung gezogen. Winnie beobachtete seine Schuhspitze, die schon wieder Kreise zeichnete, als läge das Heil eines Menschen in der steten Wiederholung eines überschaubaren Ganzen. Man konnte ihrem Vorgesetzten vorwerfen, was man wollte, aber Verhoeven war stets und in allem überkorrekt. Seine Berichte waren sachlich und nüchtern. Er neigte nicht dazu, seinen Part herauszustellen, er neigte nicht zu Übertreibungen, und erst recht neigte er nicht zu Beschönigungen oder gar Prahlerei. Aber in diesem speziellen Fall war der Bericht, den er über die Geschehnisse jener Nacht geschrieben hatte, offenbar nur ein Teil der Wahrheit …
»Ich hätte die Möglichkeit gehabt«, riss seine fahle Stimme sie aus ihren Überlegungen. »Ich hatte die Gelegenheit, Kender zu verfolgen. Ich hätte alles stehen- und liegenlassen können. Nina weiß, wie man den Notruf wählt. Ich hätte gehen können. Aber …« Er vergrub das Gesicht in den Händen und wirkte mit einem Mal zehn Jahre älter. »Aber ich hab’s nicht getan. Ich habe den Notarzt gerufen. Ich habe die Zentrale benachrichtigt. Und dann – erst dann – habe ich aus dem Fenster gesehen und festgestellt, dass er fort war.«
Winnie nickte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte.
»Aber wissen Sie, was der große Irrtum war?«
»Nein.«
»Kender ist gar nicht fort.« Verhoevens Stimme wurde noch leiser. »Er ist im Zimmer meiner Tochter, beinahe jede Nacht. Er ist in meinem Kopf. Und ich bekomme ihn einfach nicht mehr weg da.«
»Hey.« Winnie legte ihm behutsam, fast verschämt die Hand auf den Rücken. »Sie wissen doch bestimmt, wie man bis vor gar nicht langer Zeit mit Selbstmördern umgegangen ist, oder?«
Er sah sie an, als habe sie den Verstand verloren.
»Man hat ihnen ein Begräbnis auf einem regulären Friedhof versagt«, fuhr sie unbeirrt fort. »Keine sakralen Handlungen, kein Ritual. Stattdessen hat man sie irgendwo abseits in einer wenig beachteten Ecke verscharrt, meist sogar außerhalb der eigentlichen Friedhofsmauern.« Sie zuckte die Achseln. »Die Position der Kirche war in diesem Punkt ziemlich eindeutig. Aber mittlerweile ist man selbst dort davon abgerückt, und wissen Sie auch, warum?«
Er schüttelte den Kopf. »Warum?«
Sie blickte geradeaus in die Nacht, die immer kälter wurde. »Na ja, früher ging man davon aus, dass es sich bei einem Selbstmord um die freie Entscheidung eines mündigen Menschen handele. Dass der Selbstmörder also so was wie eine Wahl hat. Aber die hat er meist gar nicht.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und lächelte. »Sie wissen selbst, was ich von Psychologie und Psychoanalyse halte, aber was die Freiheit der Entscheidung angeht, haben diese Seelenklempner schon recht: Man muss keine Pistole an der Schläfe haben oder unter der Befehlsgewalt eines ranghöheren Offiziers stehen, um keine Wahl zu haben. Manchmal kann man auch im sogenannten normalen Leben nur auf eine einzige Weise entscheiden.«
Er reagierte nicht, aber sie hatte das Gefühl, dass er zuhörte.
»Ich meine, man kann sich immer streiten, wo der freie Wille aufhört und die Zwangslage anfängt«, fuhr sie fort. »Und diese Dinge sind gewiss auch immer subjektiv zu sehen. Aber glauben Sie im Ernst, dass irgendwer, der bei klarem Verstand ist, einen gefährlichen Verbrecher laufenließe, wenn er nicht zumindest subjektiv der Meinung wäre, es ginge nicht anders?«
Verhoeven schien eine Weile darüber
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