Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Stattdessen blätterte er eifrig in Werneuchens Faktensammlung.
Ein kurzes, energisches Klopfen setzte der Stille ein abruptes Ende. Gleich darauf steckte Amanda Kerr den Kopf zur Tür herein. Die Polizeipsychologin, deren Meriten auf dem Gebiet der Trauma-Therapie weit über die Grenzen des westhessischen Polizeipräsidiums hinaus bekannt waren, hatte einen Tweedmantel über dem Arm und ein paar verirrte Schneeflocken im Haar. Sie war eine unaufdringlich attraktive Frau von Mitte vierzig mit einem glatten, ebenmäßigen Teint und interessanten gelbgrünen Augen hinter einer randlosen Brille.
»Ah, Frau Dr. Kerr!«, rief Hinnrichs erfreut, und einmal mehr staunte Winnie Heller über den Charme, den der Leiter des KK 11 bei Bedarf versprühen konnte. »Wie schön, dass Sie die Zeit gefunden haben!«
Die Psychologin warf einen verdutzten Blick auf den massiven Herrenchronographen an ihrem Handgelenk. »Bin ich zu spät?«
»Oh nein, ganz und gar nicht«, versicherte Hinnrichs, indem er ihr galant einen Stuhl zurechtstellte. »Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Amanda Kerr folgte der Aufforderung und schlug die Beine übereinander. Sie trug einen schlichten schwarzen Rollkragenpullover zu ihren Bluejeans und begrüßte die übrigen Anwesenden der Reihe nach mit einem kurzen Kopfnicken.
Winnie Heller rechnete fest damit, dass die Psychologin ein paar persönliche Worte mit ihr wechseln oder doch zumindest etwas wie Erkennen zeigen würde, doch Frau Dr. Kerrs aparte Züge verrieten keinerlei Regung, als die Reihe an ihr war.
»Also«, sagte sie und blickte Burkhard Hinnrichs erwartungsvoll an. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, haben wir es in Ackermanns Fall nicht mit einem gewöhnlichen Mord zu tun«, erklärte Hinnrichs. »Wir gehen vielmehr davon aus, dass das Opfer vor seinem Tod gefoltert wurde. Außerdem wurde Ackermanns Leiche nur ein paar hundert Meter Luftlinie von einer Seniorenresidenz entfernt gefunden.«
Amanda Kerr nickte. »Ich habe den Bericht gelesen.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Das ist in der Tat eigenartig.«
Hinnrichs rammte seine leere Kaffeetasse auf den Tisch. »Sie hatten damals mit Ackermann zu tun, nicht wahr?«
»Indirekt«, entgegnete Amanda Kerr ausweichend. »Ich war in der Hauptverhandlung als Expertin für die Problematik des sogenannten Health Care Serial Killers geladen, ein Gebiet, mit dem ich mich vor ein paar Jahren bei einem Studienaufenthalt in den USA ausgiebig beschäftigen durfte.« Sie hob entschuldigend die Achseln. »Mit der Erstellung des psychologischen Gutachtens Ihres Mordopfers waren hingegen zwei Kollegen von mir betraut.«
»Ach«, machte Hinnrichs, der offenbar etwas anderes erwartet hatte.
Auf die Lippen der Psychologin malte sich ein leises Lächeln. »Aber natürlich habe ich mich damals intensiv mit dem Fall befasst.«
»Fein«, säuselte Hinnrichs, der durchaus verstand, dass er gerade ziemlich schlecht aussah. »Dann setzen Sie uns mal ins Bild.«
3
»Das sogenannte Todesengeltum ist in unseren Breiten noch immer längst nicht auf so breiter Basis erforscht wie beispielsweise in den USA «, erklärte Frau Dr. Kerr, nahm ihre Brille ab und steckte sie in den Ausschnitt ihres Pullovers. »Dort bemühen sich Wissenschaftler schon seit geraumer Zeit um die Erstellung von mehr oder weniger allgemeingültigen Profilen solcher HCSK s, also des sogenannten Health-Care-Serienmörders, den man als einen ganz spezifischen Tätertypus betrachtet.«
»Zu Recht?«, fragte Verhoeven.
Amanda Kerr nickte. »Ich würde sagen, ja.«
»Was genau sind das für Täter?«
»Bei den klassischen HCSK s handelt es sich quasi ausnahmslos um Personen, die in pflegerischen oder dem Gesundheitswesen doch zumindest verwandten Berufen tätig sind und in diesem Bereich auch ihre Opfer finden.« Sie lehnte sich zurück. »Die Bandbreite reicht von der Laborantin, die ihre Blutkonserven absichtlich mit AIDS oder anderen todbringenden Viren infiziert, bis hin zum Pfleger, der reihenweise Schutzbefohlene tötet, weil sie ihm leidtun. Oder weil er schlicht und einfach keinen Bock hat, sich durch den Mehraufwand an Pflege den Tag versauen zu lassen.«
Die scheinbar legere Sprache der Psychologin entlockte Bredeney ein missbilligendes Grunzen, doch Winnie wusste, dass dahinter nicht mangelndes Mitgefühl, sondern ein gesunder Pragmatismus steckte.
»Basierend auf den Erkenntnissen der genannten Studien, gibt es
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