Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
und schwankt auf erstaunlich hohen Absätzen ins Haus zurück.
»In zehn Minuten sind hier alle weg«, sagt sie noch, bevor sich die Terrassentür hinter ihrer orangen Erscheinung schließt.
Mario tauscht einen Blick mit seiner Schwester. »Ihr müsst jetzt gehen«, sagt er.
Und erstaunlicherweise sagt er nicht, dass ihm das leidtut. Aber vielleicht ist die Scham über den Auftritt, den seine Mutter hingelegt hat, einfach zu groß. Zu übermächtig.
»Na klar«, beeilt sie sich zu sagen. Wenn ihr doch nur etwas einfiele, mit dem sie ihn trösten könnte! »Das ist nicht … Ich meine, es macht nichts.«
Seine Augen wenden sich ihr zu, und was sie dort sieht, lässt sie mitten in der Bewegung erstarren.
»Tut mir leid«, sagt sie, doch er reagiert nicht.
Um sie herum werden die Stimmen der anderen allmählich wieder lauter. Einige nehmen einfach ihre Sachen und gehen. Andere stehen hilflos herum, wissen nicht, ob sie abräumen helfen sollen.
»Lass«, sagt Marios Schwester. »Das macht unsere Haushälterin.«
Dankbarkeit. Aufbruch. Aber auch Murren. Dieser Abend hätte so schön werden können. Hier und da trifft ein Blick auch den Gastgeber, der noch immer wie angewurzelt neben dem Grill steht. Unverständnis. Mitleid. Hohn. Von allem etwas. Aber alles bleibt fein säuberlich unter der Oberfläche. Niemand will es sich verderben mit Mario Belting, das ist ziemlich offensichtlich.
»Danke, dass ich hier sein durfte«, sagt sie zum Abschied, weil sie das irgendwann mal so gelernt hat. Aber auch, weil sie wirklich so empfindet.
Mario nickt nur. Apathisch fast. Wie eine Puppe, die jemand dort vergessen hat. An diesem riesigen, sündhaft teuren Grill, der auszugehen droht, weil sich niemand mehr ums Feuer kümmert.
Hin und her gerissen in einem Sturm widersprüchlichster Gefühle nimmt sie ihre Handtasche und geht den anderen nach. Es ist fast dunkel jetzt, aber noch immer riecht die Luft nach Sonne und gegrilltem Fleisch.
Im Obergeschoss der Villa brennt Licht hinter einem der hohen Fenster. Das Schlafzimmer seiner Mutter wahrscheinlich. Sie bleibt kurz stehen, weil sie glaubt, dort einen Schatten zu sehen. Eine hohe, schlanke Gestalt, die auf und ab wandert. Ziellos, wie es scheint.
Eigenartig, denkt sie. Eine Frau, die alles hat. Alles außer Sorgen.
Schein ist nicht gleich Sein,
flüstert Annette, und mehr als zuvor findet sie, dass ihre Freundin altklug klingt.
Der Kies der langen, von dichten Büschen gesäumten Auffahrt knirscht unter ihren Sohlen, als sie langsam weitergeht. Die Gefühle und Gedanken in ihrem Kopf verdichten sich zu einer tiefen Ratlosigkeit. Die Prüfungen sind rum. Die Schule ist aus. Und im Oktober beginnt Marios Studium. Ob sie einander noch mal wiedersehen?
Na und? Für den bist du doch sowieso nur eine unter Hunderten. Wenn überhaupt …
Vielleicht hat Annette doch recht, denkt sie, indem sie sich den leeren, emotionslosen Blick ins Gedächtnis ruft, mit dem ihr Schwarm sich von ihr verabschiedet hat. Wenn ich ihm etwas bedeuten würde, ließe er mich niemals einfach so gehen. Nicht nach einem so perfekten Tag. Nicht nach einem solchen Abend.
Das Knacken eines Zweigs ein Stück seitlich von ihr beendet den unbequemen Gedanken abrupt. Sie schaut sich hastig um, doch die Lampen, die die Auffahrt beleuchten, sind nicht hell genug, als dass sie viel erkennen könnte. Trotzdem hat sie das dringende Gefühl, dass da jemand ist. In ihrer Nähe. Jemand, der sie ansieht. Jemand, der sie beobachtet. Und plötzlich bekommt sie Angst. Sie schiebt den Daumen unter den Riemen ihrer Handtasche und beschleunigt ihren Schritt. Vorn am Tor stehen ein paar von den anderen. Jungs, die sie heute zum ersten Mal gesehen hat. Trotzdem ist sie froh, dass sie da sind. In ihrer Nähe. In Rufweite.
»Pssssst.«
Sie stutzt. Was …?
Hinter ihr werden Schritte laut. »Becky?«
»Ja?«
Das unscheinbare Mädchengesicht ist gerötet vor Aufregung. »Warte!«
Wie unterschiedlich die Natur doch vorgeht, wann immer sie ihre Gene zusammenwürfelt, denkt sie erstaunt. »Was ist?«
Sie scheint erst mal zu Atem kommen zu müssen. Wahrscheinlich ist sie gerannt. »Das hier soll ich dir geben.«
»Von Mario?«
Sie antwortet nicht. Die ganze Sache scheint ihr furchtbar peinlich zu sein. Sie drückt ihr einfach nur einen zusammengefalteten Zettel in die Hand und ergreift die Flucht.
Rebecca blickt ihr nach, wie sie den langen Kiesweg zurückrennt. Zum Haus. Erst als die Dunkelheit ihre zarte Gestalt
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